"Der Vlaams Belang ist im Aufwind", titelt Le Soir. "Die Open VLD sackt unter die Marke von zehn Prozent", schreibt Het Laatste Nieuws. Beide Zeitungen veröffentlichen heute eine Umfrage, die sie zusammen mit den Fernsehsendern VTM und RTL in Auftrag gegeben hatten. Die sichtbarste Entwicklung ist in Flandern zu beobachten.
Der Umfrage zufolge kann der rechtsextreme Vlaams Belang im Vergleich zur Wahl im Mai fast zehn Prozentpunkte zulegen. Mit 27 Prozent wird der Vlaams Belang stärkste Kraft und entthront damit die N-VA, die nur noch bei 22 Prozent landet. Die restlichen Parteien dümpeln allesamt bei rund zehn Prozent. Das Fazit von Het Laatste Nieuws liest sich fast schon wie eine Warnung: "Vlaams Belang und N-VA erobern zusammen die Mehrheit der flämischen Sitze". Und beide Parteien haben bekanntermaßen ein separatistisches Programm. In der Wallonie und in Brüssel ist die Lage mehr oder weniger stabil. Größere Verschiebungen gibt es nicht. Im südlichen Landesteil bleibt die PS stärkste Kraft, in der Hauptstadt sind es die Grünen von Ecolo.
Ist der Cordon sanitaire noch vertretbar?
Der Niedergang der traditionellen Parteien scheint sich zu bestätigen, analysiert Het Laatste Nieuws in seinem Leitartikel. Der flämische Wähler ist das Herumeiern insbesondere von Open VLD und CD&V leid. Der Höhenflug des rechtsextremen Vlaams Belang ist derweil die spektakulärste Auferstehung von den Toten seit Lazarus. Heißt wohl: Durch Flandern weht nicht mehr ein Lüftchen der Unzufriedenheit, es ist ein Orkan der Wut. Wut auf die aktuelle Parteienlandschaft.
Hier stellt sich langsam aber sicher auch die Frage nach der Existenzberechtigung des sogenannten Cordon sanitaire. Schließt man weiter den Vlaams Belang und auch die marxistische PTB prinzipiell als potentielle Koalitionspartner aus, dann ignoriert man damit 36 Prozent der Wähler, fast vier von zehn. Wenn die Wallonen dann auch noch die N-VA ausschließen, dann bleibt auf flämischer Seite nicht mehr viel übrig. Allenfalls Krümel.
Johnsons Sieg löst nicht alle Probleme
Viele Zeitungen blicken aber auch heute wieder nach Großbritannien. "Freie Fahrt für Boris Johnson", titelt etwa De Morgen. Der amtierende britische Premierminister hat ja mit seiner konservativen Partei bei der Parlamentswahl am Donnerstag einen Erdrutsch-Sieg errungen. Johnson kann sich jetzt auf eine komfortable Mehrheit stützen. "Doch dieser klare Sieg löst nicht alle Probleme", bemerkt L'Echo auf Seite eins. La Libre Belgique wird deutlicher: "Der Sieg von Boris Johnson lässt befürchten, dass Großbritannien auseinanderbricht".
Jetzt kann man jedenfalls davon ausgehen, dass der Brexit kommen wird. Termin ist ja der 31. Januar kommenden Jahres. Danach muss allerdings noch über die künftigen Handelsbeziehungen verhandelt werden. "Die EU ist bereit für die zweite Phase", bemerkt aber Le Soir. Die 27 haben sich gestern nämlich schon einmal bei ihrem Gipfel auf eine gemeinsame Linie verständigt.
Erleichterung heißt noch lange nicht Freude
"Das schlimmste Szenario ist vom Tisch", bemerkt De Standaard in seinem Leitartikel. Das Schreckgespenst eines ungeordneten Brexits hat sich plötzlich wieder etwas entfernt. Durch seinen unerwartet deutlichen Sieg hat Boris Johnson jetzt freie Hand. Und er gibt den Versöhner, predigt eine One-Nation-Politik, eine Nation. Tatsächlich ist die Situation in Schottland regelrecht bedrohlich für die Stabilität innerhalb des Vereinigten Königreichs. Auf dem Kontinent ist demgegenüber die Erleichterung spürbar. Der Brexit ist zwar nach wie vor kein Grund zur Freude. Ein No-Deal wäre aber noch wesentlich schlimmer.
"Werden wir jetzt den echten Boris Johnson sehen?", fragt sich De Morgen. Wird das der One-Nation-Premier sein, zu dem er werden will? Die Wahlbezirke, die er der sozialistischen Labour Partei abjagen konnte, die wird Johnson schließlich halten wollen. Dann wird er den dortigen Wählern entgegenkommen müssen. Gleiches gilt für die Schotten, die sich ja mit neuen Unabhängigkeitsträumen tragen. Mindestens schon mal zwei Gründe also, um am Ende vielleicht doch einen sanfteren Brexit ins Auge zu fassen.
Wahlkampfhelfer Corbyn
Das Schwierigste kommt noch, sind sich jedenfalls die Zeitungen einig. Die Verhandlungen über die künftigen Handelsbeziehungen werden noch äußerst kompliziert, warnt etwa De Tijd. Und um's noch spannender zu machen: Wenn Boris Johnson den Stecker herauszieht, dann droht doch wieder ein No-Deal-Brexit. Der klare Wahlsieg von Johnson bringt nur auf den ersten Blick Klarheit. Natürlich hat er jetzt mehr Handlungsspielraum. Die Unsicherheit bleibt allerdings. Die Erleichterung auch an den Finanzmärkten ist vielleicht nur von kurzer Dauer.
Einige Zeitungen hinterfragen die möglichen Gründe für den überraschend deutlichen Sieg von Boris Johnson und seinen Tories. "Get Brexit done - Wir bringen den Brexit über die Bühne", dieser Slogan von Boris Johnson mag viele Wähler überzeugt haben, die die dreijährige Hängepartie Leid waren, glaubt Het Nieuwsblad. So mancher hat aber wohl auch nur Johnson seine Stimme gegeben, um Jeremy Corbyn zu verhindern. Der ewig unpopuläre Labour-Chef war der vielleicht wertvollste Wahlkampfhelfer für Boris Johnson. Dessen Wahlsieg darf im Übrigen nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Land mehr denn je innerlich gespalten ist. Für die EU ist das Votum Licht am Ende des Tunnels. Für die Briten noch lange nicht.
Eine simple und beunruhigende Erfolgs-Formel
Erstmal war die Stärke von Johnson, die Schwäche seiner Gegner, analysiert auch La Libre Belgique. Nicht umsonst hat die Labour-Partei ihr schlechtestes Ergebnis seit dem Zweiten Weltkrieg eingefahren. Jeremy Corbyn war nie eine glaubwürdige Alternative. Da gibt es aber noch einen Faktor, der im Übrigen besonders irritierend ist. Im Grunde haben die Wähler die Schlüssel der Macht einem Mann gegeben, der eigentlich längst hätte disqualifiziert sein müssen für das Amt des Premiers. Das ist keine Meinung, sondern eine Feststellung. Sowohl die berufliche als auch die politische Karriere von Boris Johnson ist mit Lügen gepflastert. Die Wahrheit ist nur dann relevant, wenn sie ihm dienlich ist. Eigentlich sollten die Mittel genauso wichtig sein wie der Zweck. Und ein Politiker, der die Mittel auf dem Altar des Zwecks opfert, der ist eigentlich eine Gefahr für die Demokratie. Hoffentlich belehrt uns Boris Johnson eines Besseren.
Die Erfolgs-Formel von Boris Johnson ist ebenso simpel wie beunruhigend, meint auch Het Belang van Limburg. Dieser Mann kombiniert Gepolter mit Humor, Nonchalance mit äußerst durchdachter Kommunikation, mit bewusst einfachen Botschaften. Gegen diese Form von Populismus sind viele traditionelle Parteien machtlos. Es ist unheimlich schwierig, für vermeintlich einfache Lösungen ebenso klare, aber dann realistische Alternativen zu formulieren. Die Formel funktioniert. Nach Belieben kann man den Begriff EU ersetzen durch andere Sündenböcke, wie etwa Migranten. Trump, Salvini oder der Vlaams Belang sind weitere Beispiele. Nuancen und Fact-Checking sind nicht mehr angesagt. Und das ist gefährlich. Hier öffnen sich alle Tore zum Extremismus.
Roger Pint