Zunächst ein Auszug einer BHF-Sendung von Oktober 1972: "Am vergangenen Freitag, meine sehr verehrten Damen und Herren, hat der Ministerrat in Brüssel das Projekt über die Schaffung des Rates der deutschen Kulturgemeinschaft gebilligt. Der Entwurf, der eine Übergangslösung vorsieht, wird nunmehr dem Staatsrat zugeleitet und bedarf anschließend noch der Zustimmung von Kammer und Senat. Wir baten heute führende Persönlichkeiten der im Gebiet deutscher Sprache vertretenen Parteien um ihre Stellungnahme beziehungsweise um die Stellungnahme ihrer Partei zu dem Projekt. Für die CSP nahm Albert Gehlen wie folgt Stellung: 'Die CSP begrüßt die Vorlage des Gesetzesprojektes zur Schaffung des Rates der deutschen Kulturgemeinschaft. Und sie möchte dem Premierminister Eyskens, dem mit der Ausarbeitung beauftragten Innenminister Van Elslande und allen Mitgliedern im Ausschuss für Gemeinschaftsfragen ihren aufrichtigen Dank ausdrücken. Wir danken auch deshalb, weil die letzten Tage und Wochen bewiesen haben, dass die Zusammenarbeit zwischen Regierung und Parteibasis, so wie wir sie gefordert haben, verwirklicht wurde.'"
Albert Gehlen, Jahrgang 1940, war damals 32 - und Vorsitzender der zu jener Zeit stärksten Partei in Ostbelgien: der CSP. Genauer gesagt, ihres reformierten deutschen Sprachflügels. Das politische Interesse war bei dem aus Elsenborn stammenden Lehrer ein paar Jahre vorher geweckt worden, durch den "Europäischen Erzieherbund". Anlässlich einer Tagung des EEB in St. Vith war im März 1968 eine deutschsprachige Gruppe "St. Vith - Eupen" gegründet worden, deren Schriftführer Albert Gehlen wurde.
Neben dem Engagement für die europäische Einigung ging es dabei sehr schnell auch um die kulturelle Autonomie innerhalb Belgiens, namentlich was das Unterrichtswesen und den Gebrauch der deutschen Sprache im Unterricht anging.
Im Gespräch schildert Albert Gehlen diese bewegten Jahre. "Alles ging sehr schnell, würde ich fast sagen. Ende der 1960er Jahre kam es generell in Westeuropa zu einem kulturellen Umbruch und Aufbruch. Ich selbst war Deutschlehrer an der Maria-Goretti-Schule und der Ausflug der Abiturienten führte uns '68 nach Paris."
Dort, sagt Albert Gehlen, hätten sie die Studentenunruhen "im wahrsten Sinne des Wortes erlebt. Unser Bus ist angehalten worden durch revoltierende Studenten, die Pflastersteine aushoben und Barrikaden bildeten."
Mit Abstrichen habe sich diese Aufbruchstimmung auch in Ostbelgien gezeigt: Jedenfalls begehrten vor allem in der Eifel politische Kräfte auf gegen die in ihren Augen selbstherrliche Haltung der CSP-PSC-Zentralen in Eupen und Verviers: Es entstanden neue Lokalsektionen in Büllingen, Crombach, Elsenborn, Manderfeld und Meyerode. "Ich selbst habe eine Mitgliedskarte in St. Vith genommen, war Mitglied der Ortsgruppe St. Vith. Es entstand praktisch in jeder Gemeinde eine CSP-Sektion und Anfang der 1970er Jahre ist dieser deutschsprachige Flügel der CSP zu Autonomie gekommen."
Junger CSP-Präsident: "Ein Erbe ohne Hypothek"
Im März 1971 wurde Albert Gehlen zum Präsidenten der deutschsprachigen CSP gewählt. Peter Thomas thematisiert das in der Aktuellen Sendung des BHF am 29. März 1971: "Es sei hier zunächst wiederholt, meine Damen und Herren, dass der St. Vither Gymnasiallehrer Albert Gehlen einstimmig zum Vorsitzenden der deutschsprachigen Delegiertenversammlung der CSP gewählt wurde. Sein Stellvertreter wurde der Eupener Pädagoge Manfred Beckers (...) Herr Gehlen, Sie sind soeben zum Vorsitzenden der deutschsprachigen CSP gewählt worden. In einem Referat haben Sie betont, dass Sie 'ein Erbe ohne Hypothek' antreten. Was berechtigt Sie zu dieser Annahme?" Darauf Albert Gehlen: "Zuerst einmal, dass wir uns gefunden haben und für uns eigene Probleme selbstständig und autonom beschließen können ist ein Novum. Und überhaupt diese neue Gliederung hat es nicht gegeben. Die führenden Mitglieder im Vorstand - also ich denke da nur an meinen Vizevorsitzenden, ohne meine Person zu nennen - das sind neue Leute. Und wir wollen mit diesem Satz betonen 'Ein Erbe ohne Hypothek', dass wir nicht nach hinten schauen, nicht auf Fehler der Vergangenheit zurückkommen, sondern eine Politik nach vorne betreiben wollen."
Zupass kamen dem Germanisten Albert Gehlen bei seinen Kontakten zu Parteivorständen und Ministern im Landesinneren seine Sprachkenntnisse. "Ich habe immer gesagt, wir müssen uns verkaufen in den anderen Sprachen. Wir müssen den Frankophonen in ihrer Sprache mitteilen, wer wir sind und was wir wollen. Wir müssen es den Flamen in ihrer Muttersprache mitteilen. Von der Sprache her war ich ein bisschen vorlaut, würde man heute sagen."
Gleichzeitig verkörperte Albert Gehlen die Haltung derjenigen, die auf eine größere Achtung der deutschen Sprache und Kultur pochten, wie im Ton-Mitschnitt einer aufschlussreichen Sendung des flämischen Fernsehens: Im Frühjahr 1971 wollte das Magazin "Panorama" die Autonomiestimmung in den sogenannten Ostkantonen ertasten. Der junge Albert Gehlen ist darin sehr klar: Bei aller Einsicht in die Notwendigkeit des Fremdsprachenerwerbs dürfe es in Sachen Kultur- und Sprachpolitik keine Zweideutigkeit geben.
Aber mit dem Eindeutigen war es dann doch nicht so leicht im Ringen mit den, nennen wir es mal freundlich: bewahrenden Kräften innerhalb der CSP/PSC einerseits. Und andererseits der deutlich forscher auftretenden Konkurrenz, allen voran denjenigen, die aus den eigenen Reihen hervorgegangen waren und sich in der Christlich-Unabhängigen Wählergemeinschaft wiederfanden und bald schon in der Partei der deutschsprachigen Belgier.
In der eingangs erwähnten Sendung vom Oktober 1972 äußert sich Albert Gehlen am Telefon wie folgt: "Wie Minister Vanden Boeynants und Hanin uns Samstag in Ciney und Minister Tindemans uns gestern in Antwerpen bestätigten, war es sehr, sehr schwer - um Vanden Boeynants zu zitieren - diese Vorlage mit diesen weitgehenden Kompetenzen, die ja viel weiter gehen als ursprünglich vom Verfassungsgeber gedacht, zu verwirklichen. Diese erste Zusammensetzung unseres Rates erfolgt nicht durch Direktwahl, so wie die CSP es gewünscht hat. Die Regierung hat dafür gewichtige und ernste Gründe aufzuweisen, die wir zu respektieren bereit sind. Wir gehen jedoch nicht von unserer Forderung nach Direktwahl ab, und sind davon überzeugt, dass diese zu gegebener Zeit die jetzige Übergangslösung ablösen wird."
Der schwierige Weg zum ersten Kulturrat
Heute sagt Albert Gehlen dazu: "Willy Schyns hat dieses erste Gesetz ja als Staatssekretär federführend begleitet. Und in diesem ersten Gesetz stand die Direktwahl nicht drin. Aber sie war schon angekündigt." Aber wenn die CSP mit Willy Schyns doch federführend war: Woher kam das Zögern bei der Direktwahl des RdK? War es Angst vor der eigenen Courage? Zweifel an der Mündigkeit der ostbelgischen Wähler? Von den Skeptikern wurde seinerzeit das Drohbild einer möglichen Irredenta bemüht, einer möglichen Abspaltbewegung wie in der Zwischenkriegszeit. Oder war es parteipolitisches Kalkül?
Auf der Grundlage der Kammer- und Senatswahlen vom November 1971 wurde ein Proporz errechnet: 13 von 25 Sitzen im ersten Rat der deutschen Kulturgemeinschaft gingen an die CSP. Die aufstrebende PDB, die noch als CUW bei der Senatswahl aus Rücksicht auf den CSP-Kandidaten Johann Weynand nicht angetreten war, musste sich mit drei Sitzen begnügen.
"Als wir den ersten Rat einsetzten, war sicher, dass nach dieser Einsetzung eine Wahl folgen würde", erklärt Albert Gehlen heute. "Dass sie so schnell kommen würde, schon 1974, das kam durch eine Regierungskrise. Denn wir waren abhängig von der Föderalregierung. Dass '74 sofort eine Direktwahl bringen würde, hat natürlich die Dinge grundlegend verändert."
Die CSP konnte zwar zwölf Sitze behaupten, die PDB wurde aber mit sechs Sitzen die zweitstärkste Partei im direkt gewählten RdK.
Und so ging es in den Folgejahren munter weiter. "Es war von vornherein sicher, jede Regierungskrise in Brüssel würde automatisch überschwappen nach Ostbelgien. So haben wir dann auch all diese Wahlen hintereinander bekommen '74, '77, '78, '81. Jedes Mal, wenn in Brüssel eine Regierung zu Fall kam, waren auch Wahlen in Ostbelgien."
Nachfolger von Johann Weynand als Präsident des RdK
Inzwischen war Albert Gehlen zum Präsidenten des RdK aufgestiegen, nachdem sein Vorgänger Johann Weynand zum beigeordneten Bezirkskommissar ernannt worden war.
In seiner Antrittsrede am 14. Januar 1977 sagte Gehlen: "Ihr habt mir jetzt das Amt des Ratsvorsitzenden übertragen, wo Ratskollegen und auch Fraktionsfreunde von mir etwas anderes erwarten als bisher. Ich habe mich in den vergangenen drei Jahren bemüht, als Fraktionssprecher der CSP den Standpunkt meiner Partei zu den anstehenden Fragen darzulegen und dies geschah manchmal mit dem mir eigenen Temperament. Laut Gesetz und Geschäftsordnung fällt mir nun eine völlig neue, andere Aufgabe zu."
Nämlich: "der Präsident aller" zu sein, was "in diesem relativ kleinen deutschsprachigen Raum, wo fast jeder jeden kennt" bestimmt nicht leicht sei, wie er noch in Anspielung auf seinen Vorgänger Weynand anerkannte. Grundsätzlich gebe es aber zwischen den damals im RdK vertretenen vier Fraktionen so viel Gemeinsames, dass es ihm um den Rat nicht bange sei, so Gehlen - vor allem mit Blick auf die eigene Dekretbefugnis.
"Wir hatten damals schon die Mehrheit mit den Liberalen und den Sozialisten, teils auch der PDB für diese Forderungen, die wir dann nach Brüssel brachten. Und diese Forderung habe ich dann im Namen des RdK an allen Regierungsstellen, wo dies erforderlich war, vorgetragen und versucht durchzusetzen, bis wir letzten Endes das Gesetz über den Rat der Deutschsprachigen Gemeinschaft hatten."
Kammerabgeordneter in der Nachfolge von Willy Schyns
Am 30. Januar 1984 wurde dieser neu geschaffene RDG eingesetzt, der am selben Tag die erste Gemeinschaftsregierung, als "Exekutive", wählte. Dafür hatte sich Albert Gehlen als Kammerabgeordneter in Brüssel eingesetzt. "1981 trat Willy Schyns nicht mehr an bei den Wahlen, und die Christlich-Sozialen bestimmten mich zu seinem Nachfolger auf der Kammerliste. Ich habe das dann auf Anhieb geschafft. Als Listenführer Melchior Wathelet an erster Stelle, Albert Gehlen an zweiter Stelle - und wir haben dies durchsetzen können von '81 an jedes Mal, wenn Kammerwahlen waren '85, '87, '91 haben wir diese Stelle halten können und das war für mich eine Bestätigung auch seitens der Bevölkerung."
Von 1989 bis 1994 war Albert Gehlen zusätzlich Bürgermeister seiner Wahlheimat St. Vith, während drei Legislaturperioden gehörte er dem Stadtrat an.
Abgeschlossen hat Albert Gehlen seine politische Laufbahn dann wieder als Fraktionssprecher am Eupener Kaperberg - aber diesmal in der Opposition. Mit etwas Abstand nimmt er es gelassen: "Politik ist ein Auftrag auf Zeit. Die Zeit ist dann gekommen 1999, wo die Christlich-Sozialen auf Landesebene in Flandern, in der Wallonie und auch in Ostbelgien in die Opposition geraten sind. Diese Zeit war schwer für uns alle. Wir mussten uns damit erst einmal abfinden und zweitens umsetzen und organisieren. Aber mit der Zeit kommt die Weisheit auch dazu. Und so gesehen: Das schadet nicht, wenn man auch mal die Opposition kennenlernt."
Bis heute ist seine CSP aus dieser Rolle auf Gemeinschaftsebene nicht wieder herausgekommen.
Als eines der ersten Mitglieder des RdK war Albert Gehlen maßgeblich an der Entwicklung der Autonomie beteiligt: im Vorfeld und in den Anfangsjahren als Präsident der CSP, dann als Vorsitzender des RdK und als Kammerabgeordneter. Selbst wenn er die Möglichkeit dazu bekäme: Anders machen würde er es nicht! "Wir waren die kleine Deutschsprachige Gemeinschaft, die Minderheit in Belgien. Dass wir Belgien nicht auf den Kopf stellen konnten, war selbstverständlich. Wir mussten ganz einfach die Dinge der Zeit analysieren, einschätzen und dementsprechend handeln. Ich glaube, dieser Weg, den wir gegangen sind, war der einzig mögliche. Dass der so schnell verwirklicht werden könne, hätten wir selbst nicht geglaubt - und sicherlich nicht die Flamen, die uns oft sagten: 'Wir haben 100 Jahre gebraucht, um die Autonomie zu bekommen, die wir haben, und ihr habt es in zehn Jahren geschafft'."
Besonders stolz ist Albert Gehlen auf ein ganz bestimmtes Dokument: Es ist ein Exemplar der belgischen Verfassung - in deutscher Sprache.
Stephan Pesch
Für den Herrn Gehlen war die Autonomie eine positive Erfahrung.Nur hat die Autonomie auch Schattenseiten, nämlich oft fehlende Französischkenntnisse bei vielen Deutschsprachigen.Die Generation meiner Eltern und Großeltern lernten mehr Französisch in der Schule als die nachfolgenden Generationen.Autonomie hin oder her, die Wallonen bleiben unseren Nachbarn.Und die Sprache des Nachbarn ist die wichtigste.Die Autonomie hatte zum Ergebnis, dass die Deutschsprachigen abgetrennt wurden vom Rest des Landes.Ohne Sprachprüfung kann ein Deutschsprachiger nicht mehr Briefträger werden in Lüttich oder Malmedy werden.Vor 60 Jahren ging das noch. Eine komplette Zweisprachigkeit wäre besser gewesen.Anstatt ein Riesenministerium in Eupen zu bauen, hätte man besser das Übersetzungssekretariat in Malmedy stärken sollen.
Meine persönliche Schlussfolgerung : die Autonomie war gut für akademisch gebildete Karriereritter, Postenjäger, etc.Die konnten Minister, Senator, Abgeordneter werden. Der Rest der Bevölkerung wurde noch nicht Mal gefragt, ob sie die Autonomie überhaupt haben will.Das ist das große Manko der DG, fehlende direkte Demokratie