"Die Implosion der CD&V bricht Coens das Genick – Rousseau lässt Vooruit wieder auferstehen – Bart De Wever wieder Beliebtester", so der große Aufmacher bei De Standaard. "Umfragewerte: Krisenstimmung bei der CD&V", titelt das GrenzEcho. "Die CD&V stürzt ab, ihr Präsident tritt zurück", so die Überschrift bei Le Soir.
Das politische Zentrum blutet schon seit zwei Jahrzehnten aus – langsam, aber unwiderruflich, kommentiert De Standaard. Jetzt, unter dem Druck des Krieges und der Inflation, können wir dabei zusehen, wie es in sich zusammenkracht. Der Fall der Christdemokraten CD&V ist so desaströs, dass ihr Vorsitzender unmittelbar – und zur allgemeinen Erleichterung – seinen Rücktritt angekündigt hat. Die Partei des Premierministers, die liberale Open VLD, holt kaum noch zehn Prozent. In der Föderalregierung sitzen jetzt mit Groen und CD&V zwei Parteien ohne Vorsitzende, eine zutiefst verzweifelte Partei, die CD&V, und mindestens eine Partei, die dabei zu sein scheint, ihren Kurs zu verlieren, die Open VLD. Und in der flämischen Regierung sieht es kaum besser aus.
Die Umfrage zeigt an allen Fronten, dass eine neue Ära begonnen hat: Nach Jahren des Exodus nach rechts wechseln die verbliebenen Zentrumswähler jetzt nach links: Die sozialistische Vooruit und die linksextreme PTB-PVDA legen zu. Die Menschen liegen nachts wach, weil sie sich Sorgen um die Kaufkraft, die Energie und die Wirtschaft machen, sie wollen, dass drastisch eingegriffen wird. Und dabei vertrauen sie weder auf Groen, die die Energieministerin stellen, noch auf die CD&V mit ihrem Finanzminister. Und obwohl Premier De Croo selbst weiter Unterstützung genießt, so vertrauen die Menschen seiner Partei nicht, schreibt De Standaard.
Eine existenzielle Krise
So wie der Kirche die Gläubigen abhandengekommen sind, so ist es den Christdemokraten mit ihren Wählern gegangen, stellt Het Belang van Limburg fest. Die CD&V hat den Zug in die Zukunft verpasst und die Frage ist, ob es noch irgendwo einen Bahnsteig gibt, von dem sie ihn noch einmal besteigen könnte. Diese Krise ist viel existenzieller als gedacht. Das sehen alle – außer der Parteiführung, wettert Het Belang van Limburg.
Gazet van Antwerpen glaubt, dass die CD&V jetzt einen Vorsitzenden vom Format eines Conner Rousseau bräuchte. Der nächste Präsident der flämischen Christdemokraten muss es vor allem schaffen, der breiten Öffentlichkeit klarzumachen, wofür seine Partei eigentlich steht. Versagt er oder sie darin, dann ist es durchaus realistisch, dass die CD&V die Hürde von fünf Prozent verpassen und aus dem Parlament verschwinden könnte, warnt Gazet van Antwerpen.
In Flandern gibt es jetzt zwei Blöcke
Für Le Soir markiert der Absturz der einst allmächtigen CD&V einen geschichtlichen Bruch in der politischen Landschaft Belgiens. Und auch der Open VLD droht ein ähnliches Schicksal, wenn man der Umfrage glauben darf. Dennoch verdient auch ein anderer Befund Aufmerksamkeit: Flandern, von dem es ja immer hieß, es sei "rechts", sammelt sich jetzt um zwei große Blöcke – einen rechten und einen linken. Und die beiden liegen gar nicht mal so weit auseinander. Es ist zwar richtig, dass der Vlaams Belang die größte Partei bleibt, gemeinsam mit der N-VA würde er auf 45 Prozent der Stimmen kommen. Aber auf der anderen Seite könnten Vooruit, Groen und die PTB-PVDA 34 Prozent holen.
Die Linke ist also keine vernachlässigbare Größe mehr und was noch erstaunlicher ist: Die extreme Linke ist nicht mehr ein nur auf den frankophonen Landesteil beschränktes Phänomen. Bis zur Wahl 2024 bleiben noch zwei Jahre. Das ist gleichzeitig sehr kurz und eine Ewigkeit angesichts der Erschütterungen, die die Welt gerade erlebt. Aber zumindest eines scheint klar: Stillstand ist keine Option mehr, meint Le Soir.
Ungefähr ein Drittel der Flamen spielt inzwischen mit dem Gedanken, für die extreme Rechte oder extreme Linke zu stimmen, hält Het Nieuwsblad fest. Das kann man durchaus als Misstrauensvotum gegen die herrschenden Parteien werten. Als Folge sind immer mehr Parteien nötig, um eine Regierung bilden zu können. Das verringert die Handlungsfähigkeit beziehungsweise Schlagkraft einer Regierung. Was wiederum zu Frust bei den Wählern führt. Damit stehen also die Wähler selbst einer energisch geführten Politik im Weg. Dieser Teufelskreis muss durchbrochen werden. Und das kann nur durch eine gut geführte Politik gelingen, unterstreicht Het Nieuwsblad.
Automobilvision 2040 und energetischer Notstand
L'Avenir blickt auf die gestern vorgestellte sogenannte "Bahnvision 2040". Der vom föderalen Ecolo-Mobilitätsminister Georges Gilkinet ausgearbeitete und von der Föderalregierung abgesegnete Plan legt die groben Linien für die Zukunft der Bahn bis 2040 fest. Das Vorhaben, die Bahn sowohl für Reisende als auch für den Frachtverkehr attraktiver zu machen, ist eine ehrgeizige und sehr schwierige Herausforderung. Die Neugestaltung des Schienenverkehrs soll die Lösung sein für den Klimawandel, die Verschmutzung, die Probleme mit der Sicherheit im Straßenverkehr, für den Zeitverlust und die wirtschaftlichen Ausfälle, die durch Staus verursacht werden.
Das Problem ist aber, dass das Lieblingsfortbewegungsmittel der Belgier ihre vier beziehungsweise zwei Räder sind. Deswegen bräuchte es auch eine Automobilvision für 2040. Damit der Verkehr auf der Straße genauso flüssig, pünktlich, sauber und energiesparend wird. Der Slogan "weniger Straßen, weniger Autos" ist nämlich keine überzeugende Antwort. Höchstens eine Wette, kritisiert L'Avenir.
L'Echo befasst sich mit dem Dauerbrennerthema Energiepreise: Es hat sich gezeigt, dass wir für die Energiewende – anders als geglaubt – keine Zeit mehr haben. Und nein, dafür sind nicht nur Putins Panzer verantwortlich, die Energiepreise haben ihren verrückten Anstieg vor dem russischen Überfall auf die Ukraine begonnen. Auch der letzte Bericht des Weltklimarates hatte uns gerade mal drei Jahre Zeit gegeben, um die Kurve der Erderwärmung und des Treibhausgasausstoßes umzukehren. Was wir für die Energiewende brauchen, das ist nicht nur Geld. Wir brauchen einen globalen, nationalen, inklusiven Plan, der Politik, Wirtschaft und Bürger am gleichen Strang ziehen lässt. Vor zwei Jahren hat Belgien einen gesundheitlichen Notstand ausgerufen. Jetzt müsste es einen energetischen Notstand ausrufen und Konzertierungsausschüsse zur Bekämpfung der hohen Energiepreise einberufen, fordert L'Echo.
Boris Schmidt