"Die Grünen und die Liberalen befördern das Duo De Wever-Magnette in die Seile", titelt La Libre Belgique. "Die Mission von Bart De Wever und Paul Magnette ist ins Wanken geraten", schreibt L'Echo auf Seite eins. Andere Zeitungen sind noch wesentlich pessimistischer: "De Wever und Magnette stecken in einer Sackgasse", notiert etwa Het Nieuwsblad. "Die Mission von De Wever und Magnette steht auf der Kippe", meint De Tijd. "Nichts geht mehr", schreibt sogar Le Soir.
In den Bemühungen um eine neue Regierungskoalition hat es gestern eine ebenso überraschende wie spektakuläre Wendung gegeben. Die Liberalen und die Grünen haben in einem gemeinsamen Kommuniqué scharfe Kritik an der Vorgehensweise der beiden Vorregierungsbildner Bart De Wever und Paul Magnette geübt. Zunächst machen die beiden politischen Familien klar, dass sie sich nicht weiter gegeneinander ausspielen lassen wollen. Darüber hinaus erteilen sie aber auch den Plänen hinsichtlich einer neuen Staatsreform einmütig eine klare Absage. Die Grünen und die Liberalen bilden also Block. Das GrenzEcho sieht schon "Grüne und Blaue zusammen im Bett". "Und damit gerät das Kartenhaus von De Wever und Magnette ins Wanken", bemerkt Het Laatste Nieuws im Innenteil.
Totale Sackgasse, wieder einmal
"Kommen Sie noch mit?", fragt leicht sarkastisch Le Soir. Also, Zeitraffer: Am 26. Mai 2019 haben wir gewählt. Dann haben Didier Reynders und Johan Vande Lanotte versucht, PS und N-VA zusammen zu bringen. Dann hat man eine Koalition ohne die N-VA gesucht, dann ohne PS. Dann sollte die aktuelle Regierung aufgestockt werden, dann haben sich die Vorsitzenden der drei aktuellen Regierungsparteien selbst zu Informatoren bombardiert, dann betraten Bart De Wever und Paul Magnette plötzlich doch gemeinsam die Arena. Plötzlich schien alles möglich, und jetzt doch wieder nicht. Also: Kommen Sie noch mit? Nein? Nun, das ist völlig normal. Das Schlimmste an dem ganzen Chaos ist, dass offensichtlich kein Parteichef mehr akzeptieren würde, dass ein anderer die Ziellinie als Sieger überquert. So tief sind wir inzwischen gesunken.
Wir stecken wieder mal in einer totalen Sackgasse, meint auch resigniert De Morgen. Seit zwei Wochen schon kommen die beiden Vorregierungsbildner keinen Schritt mehr vorwärts. Und jetzt droht sich das Ganze richtig festzufahren. Der Deal zwischen N-VA und PS sieht eine neue Staatsreform vor, die in den Augen sowohl der Liberalen als auch der Grünen viel zu weit gehen würde. Sie würden es sogar vorziehen, einige Zuständigkeiten an den Föderalstaat zurück zu übertragen. Das wiederum ist für die N-VA keine Option. Was lernen wir daraus? Der einzig mögliche Deal zwischen den beiden größten Parteien aus dem Norden und aus dem Süden des Landes, für den gibt es keine Mehrheit.
Die Liberalen und die Grünen sind der Ansicht, dass die anvisierte Staatsreform die Staatsstruktur nicht vereinfachen werde, notiert auch das GrenzEcho. Für beide ist das aber die erste Priorität mit Blick auf eine neue Staatsreform. Auf Magnette und De Wever wartet jetzt ein dickes Stück Überzeugungsarbeit, wenn sie dem König am Montag nicht mit leeren Händen entgegentreten wollen.
Wie wäre es damit, den Realitäten ins Auge zu schauen?
Jetzt werden die Bruchlinien für alle sichtbar, analysiert Gazet Van Antwerpen. N-VA und PS wollen regionalisieren, die Liberalen und Grünen glauben ihrerseits an die belgische Idee. Die N-VA gerät damit auf dünnes Eis. Ihr einziger wirklicher Verbündeter ist der Vlaams Belang. Selbst innerhalb der N-VA-Wählerschaft würde sich bestimmt nicht jeder als glühender Nationalist bezeichnen. Für die N-VA ist es jetzt noch schwieriger geworden, sich zu positionieren. Aber muss die Gemeinschaftspolitik jetzt wirklich zum Knackpunkt werden? Im Moment haben wir doch eigentlich andere Sorgen.
La Libre Belgique geht hier noch einen Schritt weiter. Eine neue Staatsreform zu fordern, das ist eigentlich ein Feigenblatt. Die Grundfeststellung ist, dass das Covid-Krisenmanagement eher suboptimal war. In Belgien lautet die Antwort dann viel zu oft: "Dann brauchen wir jetzt dringend eine Staatsreform!". Hier macht man es sich nicht nur zu einfach, diese Reaktion ist noch dazu rein ideologisch. Wie wäre es, wenn man mal den Realitäten ins Auge sieht? Beispiel: Dass die strategische Reserve, die eigentlich medizinisches Material für den Ernstfall bereithalten sollte, leer war, das hat nichts mit dem Staatsgefüge zu tun, sondern das war schlichtweg das Resultat eines schlechten Managements. Mit der Forderung nach einer neuen Staatsreform will man im Wesentlichen von den eigenen Schwächen ablenken.
"Tödliches Pokerspiel"
Eine Staatsreform darf aber auch nicht tabu sein, glaubt L'Echo. Wir müssen uns unbarmherzig auch unbequemen Fragen stellen, dürfen grundsätzlich nichts ausschließen; auch nicht, Reizthemen wie eine Spaltung der sozialen Sicherheit oder der Justiz. Umgekehrt gilt das aber auch für die Möglichkeit der Rückübertragung von Befugnissen an den Föderalstaat. Der einzige Maßstab, das muss die Effizienz sein. Und die ist im Moment erwiesenermaßen nicht gegeben. Eine Straffung des Staatsgefüges ist mit Sicherheit eine Debatte wert. Nur wird man das nicht innerhalb von 50 Tagen hinbekommen. Eine Staatsreform ist kein Tabu, aber im Moment auch keine Priorität.
De Tijd spricht denn auch von einem "tödlichen Pokerspiel". Plötzlich stehen wir wieder vor einem totalen Patt. Dabei waren doch PS und N-VA endlich zu der Einsicht gelangt, dass sie sich zusammenraufen müssen. Freilich war es die Corona-Krise, die dieses "Wunder" erst möglich gemacht hat. In den letzten 48 Stunden ist aber die Dringlichkeit, die Corona-Krise resolut anzugehen, wieder in den Hintergrund gerückt. Stattdessen sehen wir wieder politische Strategiespielchen. Wenn es in den nächsten 48 Stunden nicht zu einem weiteren Wunder kommt, dann droht am Ende auch diese Initiative zu scheitern. Und dann bleibt die desaströse Feststellung, dass die Parteien tatsächlich nur die eigene Agenda im Blick haben und nicht das Allgemeinwohl. Statt die schwerste Krise dieser Generation zu bekämpfen, lässt man in der Rue de la Loi das Ganze offensichtlich lieber entgleisen.
Roger Pint