"Die Virologen sind in den Schweigestreik getreten", titeln Het Laatste Nieuws und Het Nieuwsblad. "Corona-Experten streiken aus Protest gegen die Politik", schreibt das GrenzEcho auf Seite eins.
Renommierte Fachleute wie der Virologe Marc Van Ranst, der Epidemiologe Pierre Van Damme oder die Infektiologin Erika Vlieghe wollen erstmal keine Presseinterviews mehr geben. "Wir wollen jetzt mal der Politik die Gelegenheit geben, die Dinge darzulegen", zitiert Gazet van Antwerpen die Begründung der Experten für ihren Schweigestreik. Sie beklagen vor allem, dass sich die zuständigen Minister in den letzten Tagen nicht mehr zu den jüngsten Entwicklungen geäußert haben. "Die Politik versteckt sich hinter uns", sind sich die Wissenschaftler einig. Damit jedenfalls ist der ohnehin schon schwelende Konflikt zwischen der Politik und den Corona-Experten weiter eskaliert. Le Soir spricht auf Seite eins von der "existentiellen Krise der Experten". Premierministerin Sophie Wilmès legt ihrerseits heute noch einmal nach. "Mit ihrer Kritik sorgen die Corona-Experten dafür, dass die Botschaft undeutlicher wird", sagt Wilmès im Interview mit L'Echo und De Tijd.
Wo hakt es bei uns?
Dieses Trauerspiel wirft Fragen auf, meint sinngemäß Le Soir in seinem Leitartikel. Man kann jedenfalls nur feststellen, dass Belgien mal wieder besonders schlecht dasteht. Länder wie Italien oder Schweden werden allgemein gelobt für ihre Corona-Politik. Warum bleiben in diesen Ländern die Infektionskurven flach, während sie bei uns durch die Decke gehen? Diese Frage gilt es zu beantworten. Ein Teil der Erklärung kann das spürbare Malaise sein, das im Beratergremium Celeval vorzuherrschen scheint. Viele Gesundheitsexperten haben schlicht und einfach die Nase voll, weil sie in dem Beratergremium zusammen mit Vertretern aus anderen Sektoren einen Standpunkt ausarbeiten müssen. Es ist jedenfalls nicht normal, dass sieben Monate nach Beginn der Krise in den wichtigen Entscheidungsstrukturen Sand im Getriebe ist.
Die neue Regierung wird da schnellstens Ordnung hereinbringen müssen, ist De Standaard überzeugt. Es wartet viel Arbeit auf die neue Equipe. Das Beratergremium Celeval muss neu aufgestellt werden. Jedenfalls brauchen wir eine rein wissenschaftliche Arbeitsgruppe, ohne Lobbyisten und ohne Corona-Skeptiker. Celeval ist inzwischen so tief gespalten, dass die Wissenschaftler die Flucht ergreifen oder zumindest darüber nachdenken. Aber es ist offensichtlich, dass die aktuelle Regierung sich hier nicht mehr großartig engagieren will. Ein Indiz dafür mag auch sein, dass Premierministerin Sophie Wilmès am Mittwoch nur Lockerungen angekündigt hat. Von den drohenden Verschärfungen wollte sie nicht sprechen; das überlässt man den Nachfolgern.
Lasst De Croo in die Rue de la Loi einziehen!
À propos: Die Verhandlungen mit Blick auf die Bildung einer neuen Föderalregierung laufen ja derzeit auf Hochtouren. Das Timing ist außerordentlich eng. Schon am nächsten Donnerstag soll ein wahrscheinlich neuer Premierminister vor dem Parlament eine Regierungserklärung verlesen. Dies ausnahmsweise in den Räumlichkeiten des EU-Parlaments, um allen 150 Abgeordneten die Möglichkeit zu geben, bei ausreichendem Sicherheitsabstand dem Ereignis beizuwohnen. Als Favoriten für den Posten des föderalen Regierungschefs gelten aktuell die beiden Regierungsbildner Paul Magnette und Alexander De Croo. La Libre Belgique bringt heute Porträts der beiden PS- beziehungsweise Open-VLD-Politiker und stellt beide Männer gegenüber.
"Lasst De Croo in die Rue de la Loi 16 einziehen!", empfiehlt De Tijd in ihrem Leitartikel. So viele Politiker kommen für den Posten des Premierministers in der derzeitigen Situation nicht in Frage. Der CD&V-Altmeister Koen Geens hätte mit Sicherheit das Profil gehabt, er hat aber gestern seinen Rückzug angekündigt. Diese Entscheidung lässt tief blicken. Erstmal zeigt das, wo die einst staatstragenden Christdemokraten inzwischen stehen. Zugleich ist das ein Indiz dafür, unter welch schwierigen Bedingungen dieser Vivaldi-Zug den Bahnhof verlassen muss. Es ist ein komplexes Unterfangen. Die sichtbarste Schwäche ist, dass diese Konstellation auf flämischer Seite keine Mehrheit hat. Es braucht aber jemanden, der insbesondere den Flamen die zwangsläufig schwierigen Entscheidungen darlegen kann. Wenn Paul Magnette auch nur ansatzweise Flandern versteht, dann überlässt er Alexander De Croo den Posten des Premiers.
Diese Vivaldi-Koalition braucht vor allem ein glaubwürdiges Programm, meint l'Echo. Was bislang auf dem Tisch liegt, das ist doch noch sehr vage. Viel zu viele Punkte sind noch nicht ausdiskutiert, darunter eine ganze Reihe von heißen Eisen, von denen man weiß, dass sie in einer solchen Konstellation nur für Streit sorgen können. Da kann man nur hoffen, dass die sieben Parteien, trotz des engen Zeitkorsetts, keine halben Sachen machen. Die neue Regierung wird sich an ihren Taten messen lassen müssen. Nur so verdient man sich Glaubwürdigkeit und Legitimität.
Bart De Wever hat sich verzockt
Einige Zeitungen bringen heute Interviews mit dem N-VA-Vorsitzenden Bart De Wever. Seine Partei wird ja wohl in die Opposition verbannt. In Gazet van Antwerpen teilt er gleich wieder aus: "Magnette sucht sich immer einen Flamen, der für ihn die Drecksarbeit macht", sagt De Wever. In Het Nieuwsblad gibt er sich dagegen selbstkritisch: "Ich hätte nie sagen dürfen, dass ich das Amt des Premierministers anstrebe", sagt De Wever. Das Fazit von De Standaard: "Die Oppositionskur zwingt die N-VA zu einem Erneuerungsprozess".
Bart De Wever hat sich verzockt, analysiert Gazet van Antwerpen in ihrem Leitartikel. Der N-VA-Chef hat Fehler gemacht. Der größte davon, das ist wohl die Tatsache, dass er über die Jahre fast alle potenziellen Partner verprellt hat. Fast alle hat er sie aufs Korn genommen, gedemütigt, verteufelt. Da muss man sich nicht wundern, wenn am Ende alle Brücken abgebrochen sind.
De Wever scheint aber diesen Weg fortsetzen zu wollen, so das Gefühl von Het Nieuwsblad. De Wever will offensichtlich eine knallharte Oppositionspolitik fahren. Unter anderem will er auch Druck machen in Richtung einer Änderung des Wahlgesetzes. Ihm schwebt ein Mehrheitswahlsystem nach angelsächsischem Vorbild vor. Das würde die Regierungsbildung erleichtern, glaubt De Wever. Er vergisst dabei, dass das nicht reichen wird, um das Vertrauen der Bürger wiederzugewinnen. Es waren schließlich er und seine Kollegen, die diesen Scherbenhaufen verursacht haben. Die Parteipräsidenten dieses Landes unterschätzen, wie sehr sich die Bürger von ihnen abgewandt haben. Am Montag bekommt der König den Namen des möglichen künftigen Premiers unterbreitet. Auf ihn wartet viel Arbeit, um das Vertrauen zurückzugewinnen.
Roger Pint