"Das große Durcheinander in Europa", titelt Le Soir. "Die Gründe für das Durcheinander um die Top-Jobs bei der EU", heißt es bei La Libre Belgique auf Seite eins. "Es wird eine Zitterpartie für Michel", so die Schlagzeile von De Morgen.
Das Gerangel um die Besetzung der Spitzenpositionen bei der EU greifen gleich mehrere Zeitungen in ihren Aufmachergeschichten und Leitartikeln auf. Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union wollen am Dienstag ihren am Montag unterbrochenen Sondergipfel zu diesem Thema in Brüssel wieder aufnehmen. Belgiens Premierminister Charles Michel ist wohl weiter ein möglicher Kandidat für einen der zu vergebenden Top-Jobs.
Zu dem Sondergipfel meint Le Soir: Zumindest für den strategisch so bedeutenden Posten des EU-Kommissionspräsidenten drängt sich eine Personalie quasi auf: nämlich Michel Barnier. Der Franzose hat in den vergangenen Jahren seine Rolle als Chef-Unterhändler der EU beim Brexit hervorragend ausgeübt. Ein Genie oder gar Übermensch ist er zwar natürlich nicht. Aber er besitzt genügend Qualitäten, damit jeder der 28 EU-Staats- und Regierungschefs mit ihm zufrieden sein kann. Barnier genießt Respekt über das ganze Parteienspektrum hinweg. Die Gipfelteilnehmer sollten über ihren Schatten springen und sich für Barnier als neuen Kommissionspräsidenten entscheiden, fordert nachdrücklich Le Soir.
Zu viele Eigeninteressen
La Libre Belgique dagegen schränkt ein: Barnier wäre als Franzose für die Deutschen kaum zu akzeptieren, und das Europaparlament würde aufschreien, weil Barnier bei den Europawahlen kein Spitzenkandidat einer Fraktion war. Solche und ähnliche Einwände gegen alle Personalien bestimmen ja gerade diesen Sondergipfel. Es steht zu befürchten, dass am Ende ein schlechter Kompromiss herauskommt. Politiker aus zweiter oder dritter Reihe in den EU-Top-Jobs – genau das Gegenteil, was Europa braucht. Europa braucht die besten Leute an der Spitze, betont La Libre Belgique.
L'Avenir stellt fest: Europa im Jahr 2019 zeigt sich zu sehr zersplittert in Einzelinteressen, persönliche Rivalitäten und politische Empfindlichkeiten, um sich auf neue Namen zu einigen. Das ist der wiederholte Beweis dafür, dass vieles nicht gut funktioniert in der Europäischen Union. Zufrieden kann damit keiner sein. Aber man kann fast schon darauf wetten, dass die Politiker, die am Ende des derzeitigen Gerangels die EU-Top-Jobs neu besetzen werden, nicht in der Lage sein werden, diesen Apparat zu ändern, bedauert L'Avenir.
Stillstand statt Beschleunigung
Die flämischen Zeitungen beschäftigen sich in ihren Leitartikeln ausschließlich mit der Suche nach neuen Regierungen in Belgien. Für die föderale Ebene hatte König Philippe am Montag die Mission der Informatoren Didier Reynders und Johan Vande Lanotte bis Ende Juli verlängert. In Flandern hatte Bart De Wever überraschend angekündigt, alle Bemühungen bei der Bildung einer neuen Regionalregierung zu stoppen, bis auf föderaler Ebene mehr Klarheit herrsche.
De Standaard stellt fest: Allgemein wurde für diese Woche mit einer Beschleunigung gerechnet bei der Suche nach neuen Regierungen. Jetzt ist genau das Gegenteil der Fall. Sowohl auf föderaler als auch auf flämischer Ebene herrscht jetzt Stillstand bis Ende Juli. Die Chance auf einen verlorenen Politiksommer ist stark gewachsen. Dabei bleibt es dabei: Alles hängt an PS und der N-VA. Beide liegen in Lauerstellung, beide wollen sich nicht bewegen. Wer als erster Zugeständnisse macht und das Allgemeinwohl über die Parteiinteressen stellt, hat viel zu verlieren. Die belgische Politik ist komplett blockiert, seufzt De Standaard.
De Morgen erinnert: Für Bart De Wever bestand keine Notwendigkeit, die Regierungsbildung in Flandern auf Eis zu legen. Es ist reiner Opportunismus, was er da tut. De Wever will anderen Parteien die Schuld daran geben, dass er den Vlaams Belang nicht in einer Regionalregierung berücksichtigen wird. Opportunismus statt politischer Notwendigkeit: Der Wähler hat von solchen Spielchen die Nase voll, weiß De Morgen.
Kopfschütteln über Bart De Wever
Het Laatste Nieuws analysiert: Mit seinem Schritt setzt Bart De Wever vor allem OpenVLD und CD&V unter Druck. Beide Parteien sollen nicht ohne die N-VA in eine föderale Regierung eintreten. Theoretisch ist das zwar tatsächlich ein Grund, praktisch scheint es für OpenVLD und CD&V kaum attraktiv, so einen Schritt auch ohne Druck der N-VA zu vollziehen. Denn fünf Jahre Föderalregierung unter Dauerbeschuss der N-VA und des Vlaams Belang in der Kammer, das werden sich OpenVLD und CD&V wohl kaum zumuten. So richtig verstehen kann man Bart De Wevers Entscheidung von Montag nicht, schlussfolgert Het Laatste Nieuws.
Gazet van Antwerpen setzt die Hoffnung auf die föderalen Informatoren und führt aus: Allein die Tatsache, dass Vande Lanotte und Reynders am Montag nicht das Handtuch geworfen, sondern eine weitere Mission angenommen haben, zeigt, dass sie die Hoffnung noch nicht aufgegeben haben, die Parteien aus ihren Schützengräben zu locken. Wie das gehen soll, bleibt unklar. Aber sie sind jetzt die einzige Hoffnung, die zurzeit noch bleibt, notiert Gazet van Antwerpen.
Kay Wagner