"Wir werden nach über 20 Jahren dem veralteten Gesetz zum Atomausstieg ein Ende machen." Premierminister Bart De Wever verlas am 4. Februar in der Kammer seine Regierungserklärung. Es ist das Programm seiner Arizona-Koalition, das, was sich die fünf Parteien für die nächsten rund viereinhalb Jahre vorgenommen haben. Eine Priorität ist es, den Ausstieg aus dem Ausstieg zu besiegeln. De facto war das im Grunde schon der Fall - spätestens, als die Vivaldi-Koalition die Laufzeitverlängerung der beiden jüngsten Reaktorblöcke beschlossen hatte. Doel 4 und Tihange 3 sollten eigentlich just in diesem Jahr endgültig vom Netz gehen. Im Juni 2023 einigte sich die Regierung De Croo aber mit dem Atomkraftwerksbetreiber Engie, die Anlagen zehn Jahre länger laufen zu lassen.
Ziemlich genau 20 Jahre zuvor hatte man noch das genaue Gegenteil beschlossen. Im Januar 2003 gehörte Belgien zu den ersten Ländern weltweit, die den Ausstieg aus der Atomenergie beschließen. Durchgedrückt haben das die Grünen, die 1999 zum ersten Mal einer Regierung beitreten. Diese "Regenbogenkoalition" unter dem damaligen Premierminister Guy Verhofstadt beschließt, dass die sieben Reaktorblöcke schrittweise vom Netz gehen sollen: Die ersten drei im Jahr 2015, die verbleibenden vier im Jahr 2025. Der zuständige Energiestaatssekretär, Ecolo-Urgestein Olivier Deleuze, hatte seinerzeit keinen Zweifel daran, dass das auch funktionieren würde. Bis 2015 und 2025 ist es noch so lange hin, dass längst für Alternativen gesorgt sein wird.
Da gab e nur einen Haken. Das Gesetz von 2003 enthielt eine Hintertür: Bevor die letzten Reaktorblöcke abgeschaltet werden sollten, musste noch einmal untersucht werden, ob die Versorgungssicherheit auch wirklich garantiert ist. Das konnte so klingen, als wäre der Atomausstieg dann doch noch nicht so hundertprozentig definitiv. Die Folge: Es wurde nur halbherzig in Alternativen investiert… Das rächte sich: Schon 2009 wurde ein erstes Mal eine Laufzeitverlängerung beschlossen: Die ältesten Reaktorblöcke durften demnach ebenfalls bis 2025 am Netz bleiben.
Das Gesetz blieb Gesetz. Keine der Nachfolgeregierungen stellte es ernsthaft infrage. Das galt erst recht in den 2010er Jahren, als die Atomkatastrophe von Fukushima die Welt noch einmal schlagartig an die Gefahren der Atomenergie erinnert hatte und Deutschland der Kernkraft sogar schlagartig entsagte. 2012 wurden auch die Materialschwächen in den Reaktorbehältern von Doel 3 und Tihange 2 entdeckt. Von Atomkraft wollte man auch hierzulande nichts mehr wissen.
2017 bekannte sich der damalige Premierminister Charles Michel ganz klar zum Atomausstieg: Er bleibe bei dem Ziel, 2025 die letzten Meiler abzuschalten, sagte der MR-Politiker in der Kammer. Das war die Zeit der sogenannten Schwedischen Koalition, an der neben der MR auch die N-VA beteiligt war. Beide wandelten sich dann aber in nur wenigen Jahren zu den erbittertsten Gegnern des Atomausstiegs.
Die Zukunft der Kernenergie war noch 2019 eins der zentralen Wahlkampfthemen. Die flämischen Liberalen Open VLD machten daraus sogar ein KO-Kriterium. "Wir stehen zu dem Gesetz von 2003. Wenn De Wever das ändern will, dann wird er sich Partner suchen müssen", sagte die damalige OpenVLD-Chefin Gwendolyn Rutten. De Wever landete bekanntlich in der Opposition, Premierminister wurde der OpenVLD-Politiker Alexander De Croo. Auch er bekannte sich ganz klar zum Atomausstieg…
Die Deadline rückte näher. Die Vivaldi-Regierung war gerade dabei, den Bau neuer Gaskraftwerke in Auftrag zu geben, als der Krieg in der Ukraine ausbrach. Gas wurde zur Mangelware. Plötzlich musste die grüne Energieministerin denken, was sie nicht denken wollte - und aussprechen erst recht nicht. "Wenn alle Stricke reißen, liegen alle Optionen auf dem Tisch", sagte Tinne Van der Straeten. "Auch die Verlängerung der Atomkraft?", fragt der VRT-Journalist. Keine Antwort. Doch genau so kam es: Ausgerechnet die Grünen mussten einer Laufzeitverlängerung der beiden jüngsten Atomkraftwerke zustimmen. Nach der Wahl 2024 hatten sich dann plötzlich die Kräfteverhältnisse geändert: Die Arizona-Koalition betrachtet die Kernkraft wieder als Teil der Lösung. Quasi folgerichtig will sie den Atomausstieg jetzt in den Papierkorb der Geschichte verfrachten. Die Außerkraftsetzung des Gesetzes von 2003 wird wohl Donnerstag durch die Kammer definitiv besiegelt.
Roger Pint