Eine Schwarz-Weiß-Antwort bekommt man von Christian Behrendt nicht zum Thema der sogenannten Deföderalisierung des belgischen Justizsystems. Das sei weder von vornherein gut oder abzulehnen, sagt der Professor für Verfassungsrecht an der Universität Lüttich. Diese Haltung empfiehlt er auch allgemein beim Umgang mit der jetzt gestellten Forderung der N-VA. "Ich denke, dass es im belgischen Föderalgefüge sinnvoll ist, dass wenn bestimmte Ideen auftauchen und die auch legitimiert sind von großen Parteien - die N-VA ist die größte Partei im ganzen Land, man darf das nicht vergessen - man sich so einer Debatte nicht prinzipiell à priori verschließt."
Doch worüber geht es überhaupt? Was steckt hinter der Forderung der N-VA, die Justiz zu deföderalisieren? "Es ist ja so, dass wenn man über Justiz spricht, man sich die Frage stellt, welche Entitäten in einem Land dafür zuständig sind. Ist es der Bundesstaat? Also der Bund, Zentralstaat, Föderalstaat? Oder sind es die Teilentitäten, die in Deutschland Bundesländer heißen oder in Belgien halt die Gemeinschaften und Regionen sind."
In Belgien ist jeder Richter ein föderaler Richter
Da gibt es Unterschiede in den Staaten. "Beispielsweise in Deutschland ist es so, dass nur die höchsten Gerichte Bundesgerichte sind. Alle anderen Gerichte - wenn Sie nach NRW schauen - Landgericht, Oberlandesgericht, das sind alles Landesgerichte. Die unterstehen dem Land Nordrhein-Westfalen. Die unterstehen nicht direkt dem Bund, nicht der Bundesrepublik. Das ist in Belgien zurzeit ganz anders. In Belgien ist jeder Richter, also auch der Friedensrichter in Eupen oder St. Vith, ein föderaler Richter, ein Bundesrichter."
Genau das möchte die N-VA beziehungsweise ihre Ministerin Zuhal Demir ändern. Sie möchte, dass es auch Richter und Gerichte geben soll, die nicht dem Föderalstaat unterstehen, sondern den Teilgebieten des belgischen Staates, also den Regionen oder den Gemeinschaften. Das sei durchaus denkbar, sagt Christian Behrendt. "Bei der nah beistehende Justiz, was man auf Französisch 'La Justice de proximité' nennen würde, reden wir über beispielsweise Friedensgerichte. Da kann man darüber nachdenken, bestimmte Regeln den Teilgebieten zu überlassen, die näher zu präzisieren. Wenn Sie so etwas machen, haben Sie noch keinen Zerfall Ihres Rechtsstaates. Vom Grundsatz her ist so etwas nicht abträglich für das Gesamtgefüge des belgischen Staates."
Bei einem anderen Punkt hat der Verfassungsrechtler allerdings Bedenken, hier die Kompetenzen von der zentralen, föderalen Ebene auf Teilgebiete zu übertragen. "Wenn es beispielsweise um die Bekämpfung und Verfolgung von Großkriminalität geht - also der schwere Strafrechtsbereich." Denn hier sei es gerade eine Stärke des belgischen Systems, dass hier auf allen Ebenen die föderale Justiz Zugriff hätte und sich um Zuständigkeiten nicht gestritten werden müsse. "Es wäre an der N-VA zu zeigen und zu erläutern, warum in bestimmten Bereichen so etwas dann sinnvoll ist."
Nicht direkt etwas für DG ändern
Für die DG würde eine Deföderalisierung wahrscheinlich nicht direkt etwas ändern. Denn Behrendt geht davon aus, dass eher die Regionen als die Gemeinschaften mehr Kompetenzen im Rechtsbereich bekämen. Wenn es nämlich anders wäre, würde es in Brüssel zu einem massiven Problem kommen, weil dort Bürger der flämischen und der französischen Gemeinschaft zusammen in einer Region leben. "Man kann sich schlecht vorstellen, dass es in Brüssel zwei Friedensrichter parallel geben würde, einen frankophonen und einen niederländischsprachigen Friedensrichter. Das wäre die Koexistenz von zwei Rechtssystemen in einer selben Region. Das würde ja zu größten Problemen führen."
Neu sei die Debatte um eine Deföderalisierung des belgischen Rechtssystems übrigens nicht. Behrendt verweist auf ein flämisches Buch aus 2003, in dem bereits im Titel die Forderung nach einer Deföderalisierung gestellt worden sei. Selbst wenn solche Ideen mal auf föderaler Ebene zur Abstimmung kommen sollten, "ob es dann irgendwann eine Zweidrittelmehrheit dafür geben würde, weil die nötig wäre, um so etwas in die Wege zu leiten als Verfassungsänderung oder als Sondergesetz, die Frage steht natürlich dann im absoluten Konjunktiv."
Viele Fragen um eine Idee, die von der N-VA nicht ohne Grund jetzt wieder in die öffentliche Debatte gebracht wird. Die Partei möchte angesichts der Wahlen im kommenden Jahr ihr Profil als flämisch-nationalistische Partei wieder stärken. Vor diesem Hintergrund und nach den Erklärungen von Verfassungsrechtler Behrendt erscheint die Deföderalisierung eher als eine ideologisch gefärbte Forderung als eine wirkliche Notwendigkeit, um einen bestehenden Missstand im belgischen Justizwesen zu beheben.
Kay Wagner
Interessanter Artikel.
Im afrikanischen Staat Kamerun gibt es tatsächlich mehrere Rechtssysteme, die parallel zu einander existieren. Da gibt es das staatliche Rechtssystem und nebenbei noch das traditionelle Stammesrecht.