Der 1. Mai rückt näher. Das ist nicht nur der Tag der Arbeit, quasi ein Hochamt insbesondere für die sozialistischen und marxistischen Parteien. Der 1. Mai war auch die Deadline für die Verhandlungen über ein Rahmentarifabkommen. Die Gewerkschaften haben aber am Dienstag schon "den Stecker gezogen", sie sahen keine Aussicht mehr auf eine Einigung.
Der Knackpunkt: die sogenannte Lohnnorm, die gesetzlich verankert ist. Grob gesagt richtet sich diese Lohnnorm nach der Entwicklung der Löhne und Gehälter in den Nachbarländern. Ziel ist es, dafür zu sorgen, dass die Bezüge in Belgien nicht schneller steigen als bei der Konkurrenz, um die Wettbewerbsfähigkeit der belgischen Unternehmen zu schützen.
Für die laufende Tarifrunde wurde diese Lohnnorm auf 0,4 Prozent festgelegt, zuzüglich Index wohlgemerkt, denn im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern ist die Entwicklung der Löhne in Belgien ja gekoppelt an die der Lebenshaltungskosten.
0,4 Prozent, das war den Gewerkschaften zu wenig. Auf ein Prämiensystem, das immer noch die Erhöhung der Kaufkraft in einigen Sektoren ermöglicht hätte, konnte man sich auch nicht einigen. Und deswegen sahen die Gewerkschaften keinen Grund mehr, noch weiter zu verhandeln.
Jetzt muss die Regierung einschreiten - also das, worüber sich die Sozialpartner nicht einigen konnten, selbst festlegen. Und der Vorsitzende der flämischen Liberalen, Egbert Lachaert, hatte da am Mittwoch schon eine Ansage gemacht: "Dann bleibt es eben bei den 0,4 Prozent, Punkt aus", sagte Lachaert in der VRT. Und darüber herrsche auch innerhalb des sogenannten Kernkabinetts im Wesentlichen Einigkeit, so Lachaert.
"Aha?", scheint man sich da aber wohl bei den Sozialisten gedacht zu haben. "Einigkeit? Naja, für uns waren die 0,4 Prozent immer ein Minimum", sagte Conner Rousseau, der Vorsitzende der flämischen Sozialisten Vooruit in der VRT. Und das habe seine Partei von Anfang an auch allen Beteiligten gesagt.
"Da, wo Gewinne verbucht wurden, da müssen diese Gewinne auch redlich geteilt werden", sagt Rousseau. Und dabei verweist er auf Deborah, die in einem Supermarkt in Nieuwpoort als Kassiererin arbeitet. "Ich kann Deborah nicht erklären, dass ihr Unternehmen Gewinn gemacht hat, dass die Anteilseigner dafür Dividenden kassieren, dass für sie aber keine Gehaltserhöhung möglich ist. Das ist ungerecht!", sagte Rousseau. Und das bekomme er Deborah und ihren Kolleginnen und Kollegen nicht verkauft.
Dann wird Rousseau deutlich: "Wenn für diese Menschen keine Lohnerhöhungen möglich sind, nun, dann sagen wir, dass auch keine Dividenden ausgezahlt werden können." Hier geht es freilich nur um die Unternehmen, die gut durch die Krise gekommen sind.
Die flämischen Sozialisten bekommen da jedenfalls Schützenhilfe von der großen frankophonen Schwester. Der PS-Arbeitsminister Pierre-Yves Dermagne hatte sich bislang noch durch demonstrative Besonnenheit ausgezeichnet, hatte wirklich versucht, in diesem Konflikt zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften den neutralen Schlichter zu geben. Doch jetzt ging auch er in die Offensive.
Die sozialistische Familie sei sich da einig, sagte Dermagne in der RTBF. "Wenn wir den Arbeitgebern glauben, dann gibt es keine Spielräume für Lohnerhöhungen - also nichts für die Menschen, die in der Krise die Wirtschaft am Laufen gehalten haben. Nun, dann muss man auch kohärent bleiben: Dann gibt es auch keine Margen für die Auszahlung von Dividenden oder Gehaltszuschlägen für die Bosse. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit." Tatsächlich ist es so, dass das Gesetz, das die Entwicklung der Gehälter regelt, solche Maßnahmen durchaus ermöglichen würde.
Bei den Liberalen reagiert man naturgemäß äußerst verschnupft auf solche Vorstöße. Laut VRT wurden die sozialistischen Forderungen da als "unrealistisch und populistisch" gegeißelt.
Womit wird wieder beim 1. Mai wären. Denn die Sozialisten spüren natürlich den heißen Atem der marxistischen PTB im Nacken. Das eine erklärt womöglich das andere. Wenn das aber kein Theaterdonner war, dann droht der Vivaldi-Koalition vielleicht ihr erster ideologischer Grabenkampf.
Roger Pint