"Europawahlen: Charles Michel wird MR-Spitzenkandidat, Zukunft von EU-Kommissar Didier Reynders ist offen", titelt das GrenzEcho auf Seite eins. "Europa verlassen – um gestärkt zurückzukommen", schreibt L'Avenir. "Viel Kritik an Charles Michel, der Spitzenkandidat wird für die MR", hebt Gazet van Antwerpen hervor. "'Er ist der bisher am wenigsten erfolgreiche Vorsitzende des Europäischen Rats' – Wie der Abgang von Charles Michel ein Stühlerücken in Gang setzt", liest man bei De Morgen. "Von Charles Michel blockiert, versucht Didier Reynders einen Neustart im Europarat in Straßburg", ergänzt La Libre Belgique.
Lässt Charles Michel seinen Posten im Stich?, fragt Le Soir in seinem Leitartikel. Während an den Grenzen Europas Krieg herrscht und der Nahe Osten in Flammen steht? Während die Wirtschaft schwächelt und die Demokratie ins Wanken gerät? Macht sich Charles Michel der Fahnenflucht schuldig durch sein vorzeitiges Abtreten? Besonders, weil sein Posten zeitweilig vom Europaskeptiker Viktor Orbán besetzt werden könnte? Weit gefehlt: In Wahrheit kann die Suche nach einem Nachfolger für Michel sofort beginnen, um Orbán zu verhindern. Es stimmt auch nicht, dass der Wahlkampf für die MR Michel von seinen Aufgaben ablenken wird, zumindest auch nicht mehr als andere Spitzenpolitiker.
Am wichtigsten ist aber, dass demokratische Legitimität an den Urnen erworben wird, auch auf europäischer Ebene. In dem Sinne kann das Vorgehen Michels als aufrichtiger Versuch verstanden werden, die europäische Demokratie zu stärken. Falls sich aber herausstellen sollte, dass vor allem zynisches Kalkül dahintersteckt, um sich eine gute Landebahn vorzubereiten für die Zukunft, dann wäre das ein Verrat am europäischen Projekt und seinen Idealen, warnt Le Soir.
Fahnenflucht
Charles Michel begeht eindeutig Fahnenflucht, kommentiert Het Nieuwsblad. Wenn ihm eine der wichtigsten Funktionen in Europa nicht reicht, um bis zum Ende dranzubleiben, was will er denn dann? Er versagt nicht nur in puncto Verantwortung, sondern brockt Europa auch noch einen ordentlichen Schlamassel ein: Die 27 Mitgliedsstaaten müssen sich jetzt bis Ende Juni auf seinen Nachfolger einigen, sonst übernimmt Nestbeschmutzer Orbán. Da wäre Michel doch besser mit sofortiger Wirkung zurückgetreten. Man kann nur raten, wie er gleichzeitig sein Amt als neutraler Ratspräsident weiter ausüben und Wahlkampf für die MR machen will
Eines ist sicher: Europa wird es sich in Zukunft zwei Mal überlegen, bevor es einem Belgier einen so wichtigen Job gibt. Mindestens genauso schlimm ist, dass Michel einmal mehr das Klischee von Politikern bestätigt, die für ihre Karriere die wildesten Sprünge machen. Wer geglaubt hatte, dass sich 2024 irgendetwas ändern würde, ist eines Besseren belehrt worden, wettert Het Nieuwsblad.
Dank Charles Michel ist das Schimpfwort "Postenjäger" nun wieder in aller Munde, schreibt De Morgen. In einer Online-Pressekonferenz hat Michel auch behauptet, dass er sich vor den Wählern seiner Verantwortung stellen will. Allerdings werden im Juni nur die frankophonen Belgier darüber abstimmen dürfen. Und auch nur über die Frage, ob er einen guten Europaabgeordneten abgeben würde. Oft und meist zu Recht beschäftigt sich die Presse mit den Versuchen von rechtsextremen Politikern, die Demokratie zu zerstören. Aber die Postenjäger und Mandatsbesessenen tragen ebenfalls eine erdrückend schwere Verantwortung. Es sind zu oft Demokraten, die die schlechteste Werbung machen für diese Demokratie, beklagt De Morgen.
Fehlbesetzung
Das kommt davon, wenn man Politikern in zu jungen Jahren solche Posten gibt, giftet De Standaard. Mit Ende 40 ist Michel zu jung, um sich potenziell Ende des Jahres aus der Politik zu verabschieden. Also geht er auf Nummer sicher und will sich als MR-Spitzenkandidat einen Posten als Europaparlamentarier sichern und das als Sprungbrett zu anderen Ämtern nutzen. Einen Schönheitspreis verdient er dafür sicher nicht.
Die Frage ist auch, wie groß seine Chancen auf weitere hohe Ämter sind. Es hat viel Kritik an seiner Amtsführung gegeben in den vergangenen Jahren. Er habe sich mehr mit sich selbst als mit seinen Aufgaben beschäftigt, wird ihm vorgeworfen, zu stark das Rampenlicht gesucht, er habe die Gipfel zu schlampig vorbereitet. Dann waren da noch seine Spannungen mit der EU-Kommissionsvorsitzenden Ursula von der Leyen, mit "Sofagate" als Tiefpunkt, zählt De Standaard auf.
Das Amt des Präsidenten des Europäischen Rates ist nichts für ehrgeizige Menschen, meint Gazet van Antwerpen. Eher etwas für Politiker, die am Ende ihrer Karriere stehen und die im Hintergrund mit diplomatischem Geschick und Geduld Einigungen vorbereiten. Michel hat sich dafür offensichtlich als ungeeignet erwiesen. Bleibt die Frage, wofür er geeignet ist, insbesondere, nachdem er die Union in einer schwierigen Zeit aus eigennützigen Interessen im Stich gelassen hat. Wenn er jetzt dennoch noch einen weiteren hohen EU-Posten erhalten sollte, würde das Bände sprechen über die europäische Politik. Dann darf es auch nicht mehr verwundern, wenn viele Bürger sich von der EU abwenden, unterstreicht Gazet van Antwerpen.
Und Reynders?
La Dernière Heure richtet den Blick derweil auf Didier Reynders: Das 65-jährige MR-Schwergewicht hatte bei den Liberalen wohl seine Ambitionen am deutlichsten gemacht, nächster Spitzenkandidat bei den Europawahlen werden zu wollen. Diese Pläne hat Charles Michel nun durchkreuzt.
Die MR kann wohl auch nicht mit mehr als zwei Sitzen rechnen. Der erste würde an Michel als Spitzenkandidat gehen, der zweite müsste an eine Frau gehen, Reynders wäre also raus. Wird das zu einem neuen Krieg zwischen den Clans bei der MR führen? Reynders könnte aber auch im für die meisten Menschen relativ obskuren Europarat in Straßburg unterkommen, erinnert La Dernière Heure.
Boris Schmidt