"Der Impfstoff von AstraZeneca wurde in Europa zugelassen", so die Schlagzeile auf Seite eins von Het Nieuwsblad. "Europa bekommt den dritten Corona-Impfstoff", schreibt das GrenzEcho. "Ein dritter Impfstoff, der Fragen aufwirft", präzisiert aber Le Soir.
Die erste Frage ist, wie wirksam das Präparat von AstraZeneca tatsächlich ist. Die Europäische Arzneimittelagentur EMA hat den Impfstoff zwar für alle Altersgruppen zugelassen. Es gibt aber nach wie vor Zweifel, ob das Mittel auch bei Über-65-Jährigen die gewünschte Wirkung hat.
Die Probleme mit dem AstraZeneca-Impfstoff
Hier will man offensichtlich eine Wette eingehen, kritisiert De Standaard in seinem Leitartikel. Im Grunde sagt die EMA hier, dass jedes Land selbst entscheiden muss, ob es den AstraZeneca-Impfstoff nun Über-55-Jährigen verabreichen will oder nicht. Es gibt eben keine Zeit, um die Empfehlung genauer auszuformulieren. Und damit hat man eigentlich schon das wichtigste Grundprinzip über Bord geworfen. Wenn sich in drei Monaten herausstellt, dass der AstraZeneca-Impfstoff die Über-55-Jährigen doch zu wenig schützt, dann sind Millionen von Impfdosen verloren. Und dann liegt das Vertrauen definitiv in Scherben.
Obendrauf kommt dann aber auch noch der Konflikt mit der EU-Kommission über die Lieferung des AstraZeneca-Impfstoffes. Das Unternehmen hatte ja angekündigt, in einer ersten Phase nur 40 Prozent der vereinbarten Menge zu liefern. Und "Belgien steht im Zentrum des Konflikts", schreibt De Tijd. Erstmal wegen der Pfizer-Produktionsniederlassung in Puurs bei Antwerpen. Dann aber auch wegen eines Zulieferbetriebes in Seneffe in der Provinz Hennegau. AstraZeneca behauptet, dass dort die Probleme angesiedelt sind, die zu den Lieferengpässen geführt haben.
Es hätte alles so schön sein können, meint dazu sinngemäß De Tijd. Die 27 EU-Staaten lassen die EU-Kommission für sie verhandeln. Mit der geballten Wirtschaftskraft von 27 Staaten im Rücken wäre die Kommission da bestimmt in einer starken Verhandlungsposition, um den bestmöglichen Deal herauszuholen. Das hörte sich tatsächlich ziemlich gut an. Bis die ersten Lieferengpässe auftraten. Da zeigte sich plötzlich, dass die EU-Kommission Verträge ausgehandelt hatte, die nicht wasserdicht genug waren. Resultat: Die EU muss machtlos zuschauen, wie andere Länder beim Impfen Tempo machen. Die einzige Antwort der EU war, "Big Pharma" den Schwarzen Peter zuzuschustern.
Den Pharmakonzernen die alleinige Schuld zu geben, das wäre zu kurz gegriffen, ist L'Echo überzeugt. Denn was sehen wir? Die Lieferprobleme, die kann man in dem Maße nur in Europa beobachten. Was denn auch zu dem Verdacht führt, dass die Verantwortlichen in Europa die Dinge nicht entschlossen genug angegangen sind. Das gilt für alle Beteiligten. Im Moment kann man nämlich nur feststellen, dass die Mitgliedstaaten die EU-Kommission doch ziemlich alleine lassen im ungleichen Kampf mit den Konzernen. Dabei ist jeder verlorene Tag einer zu viel. Europa ist geschlossen in den Krieg gezogen, mit einer Blume im Gewehrlauf. Und dafür bezahlen wir heute den Preis...
Bald ein neuer Impfstoff "made in Belgium"
Aber da ist vielleicht Abhilfe in Aussicht: "Viel Enthusiasmus über den Janssen-Impfstoff", titelt Gazet van Antwerpen. Damit ist eigentlich das Präparat des amerikanischen Konzerns Johnson & Johnson gemeint. Das Unternehmen hat vor einigen Jahren den belgischen Traditionsbetrieb Janssen Pharmaceutica mit Sitz in Beerse bei Antwerpen übernommen, die Entwicklungsabteilung für Impfstoffe ist immer noch bei Janssen angesiedelt. Das Unternehmen hat angekündigt, dass sein Impfstoff eine Wirksamkeit von 66 Prozent habe. Schon in einem Monat könnte das Mittel zugelassen werden.
Einige Leitartikler beschäftigen sich aber auch mit dem Kleinkrieg, den sich Politiker und Gesundheitsexperten in den letzten Tagen in Sozialen Netzwerken geliefert haben. MR-Chef Georges-Louis Bouchez hatte dem Virologen Marc van Ranst unter anderem vorgeworfen, mit seinen permanenten Kassandrarufen Angst zu schüren.
Einige Zeitungen geben dem MR-Vorsitzenden da nicht unrecht. Als wäre die Situation nicht schon besorgniserregend genug, verbreiten einige Gesundheitsexperten weiter ihre übertrieben alarmistischen Einschätzungen, beklagt etwa La Libre Belgique. Diese Leute sollten sich mal die Frage stellen, welche Wirkung ihre Worte auf die Bevölkerung haben können. Niemand leugnet die Gefahren, die von dem Virus ausgehen. Doch könnte man ruhig auch mal die positiven Aspekte hervorheben. Das ist kein Plädoyer für Vogel-Strauß-Politik, natürlich muss man den Realitäten ins Auge blicken. Von Zeit zu Zeit sollte man aber auch mal die Fenster unserer Gefängniszellen öffnen dürfen. Angst allein wird das Virus nicht zurückdrängen.
Konflikt zwischen Politik und Experten – Debatte im Parlament nötig
Die Gesundheitsexperten sind keine Heiligen, die unantastbar wären, meint auch Het Laatste Nieuws. Genau auf dieses Podest sind sie aber in den letzten Monaten gehoben worden. Man kann nur feststellen, dass in Belgien jeglicher kritische Reflex in Bezug auf "die Experten" verloren gegangen ist. Das hat die Züge eines Kults angenommen. Dabei übersieht man schnell, dass auch Experten Fehler machen - Beispiele gab es in der Vergangenheit zuhauf. Und man vergisst auch, dass die akademische Welt ein mindestens genauso großes Wespennest ist wie die Politik. Mit Egos, die sich gegenseitig nicht das Schwarze unter den Fingernägeln gönnen, mit finanziellen Interessen und mit Menschen, die versuchen, ihre Fehler unter den Teppich zu kehren. Respekt vor der Wissenschaft muss sein. Aber blinde Vergötterung ist falsch.
Het Nieuwsblad gibt sich seinerseits salomonisch. Beide Seiten sind hier nicht frei von Schuld. Auf der einen Seite surfen hier einige auf der Welle des wachsenden Unmutes der Bevölkerung. Viele Menschen sind es leid und einige Politiker machen sich zu deren Sprachrohr. Auf der anderen Seite gibt es Gesundheitsexperten, die ganz klar ihre Machtposition ausspielen. Sie berufen sich auf ihre akademische Freiheit, um zu allem ihre Meinung abzugeben, selbst, wenn es ihren eigentlichen Fachbereich übersteigt. Die Antwort liegt wohl wie so oft in der Mitte: Wir brauchen starke Politiker und starke Experten, die sich im Idealfall nicht ständig in den Haaren liegen sollten.
Für Le Soir haben die einzelnen Protagonisten hier eigentlich schon den falschen Kommunikationskanal, das falsche Forum gewählt. Wie sagte es so schön eine Verfassungsrechtlerin: "Ich kann die Verfassung immer und immer wieder durchforsten, ich kann das Wort 'Twitter' nicht finden". Konkret: Eine wirkliche Debatte im Parlament ist längst überfällig. Die Regierungen reihen eine einschränkende Maßnahme an die andere - aber die Volksvertreter haben sich dazu nie wirklich ausgesprochen. Es gibt auch keinen klaren Rechtsrahmen, also zum Beispiel ein Pandemiegesetz. Die Debatte sollte da geführt werden, wo sie hingehört. Eben im Parlament.
Das GrenzEcho sieht das genauso. Nach fast einem Jahr Corona ist die Zeit reif für eine ernsthafte gesellschaftliche Debatte und die Rückkehr zu demokratischen Gepflogenheiten, meint das Blatt. Denn es ist offensichtlich, dass immer mehr Menschen sich nicht mehr mit den Entscheidungen der Politik identifizieren können. Und diese sind sogar bereit, den Boden der Demokratie zu verlassen. Im Schatten der Pandemie gedeihen die Feinde der Demokratie...
Roger Pint
Lieber Herr Pint,
bezüglich Ihrer Meinung, viele Experten würden es mit Kassandra-Rufen übertreiben, muss ich leider widersprechen.
Da die Motivation zur Veränderung fachlich gesehen stark von der persönlichen Verhaltensstruktur des Individuums abhängt, ist es richtig, bei Entscheidungen die jeweils schwierigste Gruppe als Maßstab für Massnahmen zur Verhaltensänderungen zu wählen. Nach der Typologie von Riemann-Thomann sind das speziell die "Nähemenschen" (stark emotional, sehr kommunikativ und offenherzig, braucht zum Wohlfühlen ein Menschenumfeld...). Da sie weniger faktenorientiert sind, und je nach Nähebedürfnis reagieren sie auch nicht rational, sondern meist nur emotional. Deshalb hilft dort keine Aufklärung an sich, sondern nur das negative Erleben bei sich selbst oder im Umfeld. Der Nähemensch redet es sich eher schön, und sucht sich die Meinung aus, die ihn am wenigsten in seinem Sozialumfeld behindert. Ohne Angst vor Schlimmerem wird er sich an keine Maßnahmen halten, die seinem Typ widersprechen, also kein richtigen Abstand halten, nicht dauerhaft Maske tragen.
66 Prozent Wirksamkeit; - ein Wert, der noch unter jenem des Vakzins von AstraZeneca liegt.
Zum Vergleich: Die mRNA-Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna haben bekanntlich beide eine Wirksamkeit von über 90 Prozent und sind beide gegen die sich ausbreitende britische Mutante wirksam.
Kann man mit so einem schwachen Impfstoff die Pandemie wirkungsvoll bekämpfen oder begünstigen sie nicht sogar aufgrund einer zu schwachen Immunabtwort die Bildung weiterer Mutanten?
Darüber hinaus stelle ich mir die Frage, ob Bürger/-innen nicht die Möglichkeit haben sollten, zwischen verschiedenen verfügbaren Vakzinen wählen zu können. Ich kann mir kaum vorstellen, dass sich jemand freiwillig mit einem Präparat impfen lässt, das eine Wirksamkeit von nur 66 Prozent hat, wenn gleichzeitig solche mit einer über 90-prozentigen auf dem Markt sind.
Am Preis kann es auch nicht liegen, denn wirklich günstig ist nur das Vakzin von AstraZeneca; jenes von Janssen liegt etwa in derselben Preisklasse wie die von Biontech/Pfizer und Moderna.
In der belgischen Verfassung steht an vielen Stellen geschrieben, dass gewisse Sachverhalte nur durch Gesetze geregelt werden können. Soweit ich weiß, sind viele coronabedingte Einschränkungen nur per Erlass geregelt. Mich würde nur brennend interessieren, ob diese Freiheitseinschränkungen auf einer soliden juristischen Basis stehen. Es würde mich nicht wundern, wenn alles auf einer wackeligen Basis steht. Also eine "Histoire Belge" ist.
Vor einigen Wochen wurde ein Brüsseler, der wegen fehlender Maske bestraft wurde, freigesprochen, da besagte Regelung nicht per Gesetz geregelt war.
Es geht ja nicht nur um juristische Aspekte sondern um die Glaubwürdigkeit eines Staatswesens. Wenn man anderen Ländern, wie Russland, Polen, Ungarn etc, mangelnde Rechtsstaatlichkeit vorwirft, muss selbst alles in Ordnung haben.