"EU einigt sich auf 55 Prozent weniger Treibhausgase bis 2030", schreibt das GrenzEcho auf Seite eins. "Europa und das Klima: Der Teufel steckt im Detail", titelt Le Soir. "Brexit: Das Gespenst des "No deal" geht mehr um denn je ", so La Libre Belgique auf ihrer Titelseite.
Klima, wirtschaftliche Wiederbelebung, Rechtsstaat - das nennt man im Sport wohl einen "Strike", freut sich Le Soir. Natürlich kann man auf das Kleingedruckte, die Details und die abschwächenden Kompromisse hinweisen. Aber diese in den vergangenen Jahren so oft infrage gestellte Europäische Union hat sich bei diesem Gipfel auf der Höhe gezeigt und ihr Rendez-vous mit der Geschichte eingehalten. Nicht ein Mal, nicht zwei Mal, sondern drei Mal. Einen Schönheitspreis werden die Vereinbarungen nicht gewinnen und es bleibt noch viel auszuarbeiten, aber das Ergebnis an sich ist alles andere als selbstverständlich. Und es bietet auch den von der Corona-Krise gebeutelten Bürgern eine dreifache Perspektive. Diese Neuigkeiten, gekoppelt an das multilaterale, humanistische und klimatische Comeback der USA unter Joe Biden beruhigt uns doch in dieser furchterregenden Welt. Man kann nicht anders, als dem Schicksal zu danken, das Deutschland in diesen entscheidenden sechs Monaten die EU-Ratspräsidentschaft gegeben hat. Angela Merkel hat alles dafür getan, dass Europa seiner historischen Verantwortung gerecht wird. "Europa hat es geschafft", auch das ist alles andere als selbstverständlich.
Psychologische Überlegenheit
Durch die dreifache Einigung geht Europa mit psychologischer Überlegenheit in den Endspurt über die Brexit-Verhandlungen, glaubt De Standaard. Die britische Presse zetert schon "Erpressung" und "Skandal", das ist vielsagend. Ruhig kündigt die Europäische Union einseitig provisorische Maßnahmen an, um zu verhindern, dass der Verkehr aus und nach Großbritannien nach dem 1. Januar im Chaos versinkt. Und während das für die EU nur die soundsovielte praktische Baustelle ist, kämpft Boris Johnson jetzt um sein politisches Überleben.
Die EU hat diese Woche bewiesen, dass sie in der Lage ist, sich in komplexen Angelegenheiten mit vielen widerstreitenden Interessen zu einigen. Weder hat sie sich von ihren Hauptzielen ablenken, noch gegeneinander ausspielen lassen. Nicht durch Polen und Ungarn und nicht durch Großbritannien. Die Verantwortung, ob es zu einem Handelsabkommen kommt oder nicht, liegt auf der anderen Seite des Kanals. Europa wird sich seinen Binnenmarkt nicht durcheinanderbringen lassen.
Freiheit ist keine Bagatelle
Viele Leitartikel befassen sich heute aber mit der Frage, wie die Einhaltung der Coronavirus-Schutzmaßregeln in Belgien gerade über die kommenden Feiertage durchgesetzt werden soll. Wie echte Sheriffs gehen Minister, Gouverneure und Bürgermeister das an, kommentiert De Tijd. Mit Drohnen und Kameras, mit Hausbesuchen durch die Polizei, mit landesweiten Ausgangssperren, mit Versammlungsverboten, die so weit gehen, dass sie Toilettenbesuche für Gäste regeln. Damit hat es Innenministerin Annelies Verlinden sogar in die US-Medien geschafft.
Ja, es gibt gute Gründe für eine strenge Durchsetzung der Corona-Regeln, die Zahlen stagnieren und je mehr soziale Kontakte es gibt, desto größer die Gefahr, dass die Situation entgleist. Der Preis wäre in Menschenleben zu zahlen. Das Recht auf Sicherheit und Gesundheit hat Vorrang vor anderen Rechten. Was aber erstaunt, ist die Leichtfertigkeit, mit der hier fundamentale Grundrechte beiseite geschoben werden - ohne rechtliche Grundlage und ohne eine des Namens würdige parlamentarische Debatte. Freiheit ist keine Bagatelle. Wer garantiert uns denn, dass die Maßregeln verhältnismäßig und zielführend sind? Wer garantiert uns, dass es sich wirklich nur um außergewöhnliche und temporäre Maßnahmen handelt? Wer garantiert uns, dass die Behörden die Polizeikontrollen zurückfahren werden, wenn die Corona-Zahlen wieder sinken? Man kann sich bestürzend schnell an so ein autoritäres und paternalistisches Auftreten gewöhnen.
Natürlich sind wir als verantwortungsvolle Bürger bereit, uns Regeln zu unterwerfen. Uns aber mit Drohnen und Wärmebildkameras überwachen, uns bei unseren Bestellungen und Lieferungen bespitzeln und kontrollieren zu lassen – nein, danke!, wettert La Libre Belgique. Der Respekt vor den Schutzmaßregeln ist nötig, um eine dritte Corona-Welle zu verhindern. Und wir wollen auch nicht das Spiel der Verschwörungstheoretiker spielen. Und wenn Vorschriften erlassen werden, dann müssen sie von Kontrollen und Strafen begleitet werden. Aber das, was manchen hier so vorschwebt, lässt es uns kalt den Rücken runterlaufen. Es ist ein Ausblick auf eine Welt, auf eine Gesellschaft, die wir nicht wollen. Ja, woanders, in Asien, gibt es diese Welt bereits. Aber: andere Länder, andere Sitten. Was werden sich die Behörden denn noch ausdenken? Sollten sie ihre Zeit nicht besser damit verbringen, eine echte Informationskampagne zu organisieren, um die Bürger von der absoluten Notwendigkeit der Regeln zu überzeugen? Um sie zu überzeugen, sich impfen zu lassen? Wir sind in unseren Freiheiten durch das Virus schon sehr eingeschränkt worden, da darf man es nicht auch noch unsere schönen Demokratien auf kleiner Flamme abtöten lassen.
Von Pizzakartons und Tassen
Es ist die größte Herausforderung für die Regierung: "Wie motiviert man die überwiegend Willigen, weiter gegen die Ausbreitung des Virus zu kämpfen?", stellt Het Nieuwsblad fest. Diese Woche haben wir gesehen, wie man es jedenfalls nicht macht. Cowboys, die sich an Strammheit gegenseitig überbieten wollen, machen jede Politik schnell zur Karikatur. Wenn die Pizza mit einer Gratis-Polizeidrohne geliefert wird, werden die Bürger widerborstig. Wild um sich zu schießen, ist sicher nicht die Art und Weise, um die Menschen in dieser Krise noch einige Monate lang bei der Stange zu halten.
Leider bleibt einem ob so viel übertriebenem Eifer einiger ordnungsverliebter Gesetzeshüter und ihrer Vorgesetzten nur der Ausweg in den Sarkasmus, kritisiert auch das GrenzEcho. Wie das Wort es sagt, sind sie Gesetzeshüter. Wer mag es ihnen verdenken, dass sie entweder nicht wissen oder ignorieren, dass über dem Gesetz die Verfassung steht. Folglich mögen sie auch nicht wissen, dass die Verfassung gewisse Grundrechte garantiert. Nun ist in Corona-Zeiten einiges aus den Fugen geraten und so manches aus dem Ruder gelaufen. Merke: Ehe du die Pizzakartons in fremden Mülltonnen zählst, solltest du die Anzahl der Tassen im eigenen Schrank prüfen, empfiehlt das GrenzEcho.
Boris Schmidt