"Alarm in den Krankenhäusern, Kakophonie in der Politik, und der Bürger versteht gar nichts mehr", so bringt Le Soir die Ereignisse der letzten 24 Stunden auf den Punkt. Am Freitag war tatsächlich ein intensiver und für viele wahrscheinlich verwirrender Tag. Am Freitagmorgen hatten Vertreter aller Regierungen des Landes zunächst die Ergebnisse ihres Konzertierungsausschusses bekanntgegeben. Beschlossen wurden verschärfte Maßnahmen, insbesondere in den Bereichen Sport und Kultur. "Alle großen Shows und Veranstaltungen werden ausgesetzt", so fasst es Gazet van Antwerpen zusammen.
Doch stellte sich gleich die Frage: Reicht das? Stellvertretend dafür die Schlagzeile von De Standaard: "Die Regierung verhängt noch keinen Lockdown, drohen die Krankenhäuser jetzt nicht überrannt zu werden?", so die bange Frage. Die wird konkreter, wenn man sich die Titelseite von De Morgen anschaut: "Müssen wir schon bald entscheiden, welche Patienten wir behandeln können und welche nicht?", schreibt das Blatt. Diese Frage stellt man sich derzeit in den Lütticher Krankenhäusern. Die Zeitung spricht vom "Bergamo an der Maas".
Sträflichster Dilettantismus
Die Behörden im südlichen Landesteil haben dann am Abend doch noch reagiert. "Ausgangssperre zwischen 22:00 Uhr und 6:00 Uhr morgens", titelt La Dernière Heure. Getroffen hat diese Entscheidung die Wallonische Regionalregierung im Zusammenspiel mit den Gouverneuren der fünf wallonischen Provinzen. Die Maßnahme gilt auch in Ostbelgien: "Ausgangssperre in der DG ab 22:00 Uhr", schreibt das GrenzEcho auf Seite eins.
"Erst kalt, dann doch noch heiß", kann La Dernière Heure in ihrem Leitartikel nur feststellen. Schon gestern Morgen hatte man eigentlich mit wesentlich schärferen Maßnahmen gerechnet. Der Konzertierungsausschuss hatte sich dann aber auf noch vergleichsweise sanfte Korrekturen beschränkt. Der Eine oder Andere mag da vielleicht noch erleichtert gewesen sein. Das ist, als würde man den Henker darum bitten, noch einen Moment lang zu warten. Erst am Abend legte die Wallonische Region dann aber noch eine gehörige Schippe drauf und verhängte doch noch eine Art "Semi-Lockdown".
"Was, bitte, soll das denn? Was ist das bloß für ein Land?", wettert dazu Le Soir. Eigentlich könnte man ja sagen: "Chapeau! Sie haben endlich den Ernst der Lage erkannt!" Schließlich ist die Wallonie die am schlimmsten betroffene Region in ganz Europa. Natürlich musste dieser Semi-Lockdown verhängt werden. Dennoch möchte man eigentlich nur noch schreien: "Nicht so! Um Himmels Willen nicht so!" Es gab wohl noch nie einen Tag mit so vielen widersprüchlichen Informationen: Was am Morgen galt, das war am Abend schon wieder überholt. Ganz davon abgesehen: Warum in Gottes Namen reagieren die wallonischen und Brüsseler Behörden erst jetzt? Es ist nicht so, als wäre man nicht gewarnt gewesen. In dem Moment, wo die Krankenhäuser zu implodieren beginnen, regiert in Belgien ein sträflicher Dilettantismus.
Dämme gebrochen
Belgien ist der kränkste Mann Europas, resigniert De Tijd. Das gilt vor allem für den südlichen Landesteil. In den letzten Tagen sind gleich drei Verteidigungslinien durchbrochen worden. Erst musste die Teststrategie geändert werden, dann stießen die Krankenhäuser an ihre Grenzen, einige von ihnen sind de facto im Semi-Lockdown. Und der dritte Deichbruch ist in unseren Unternehmen zu beobachten. Immer mehr Mitarbeiter fallen aus, weil sie krank sind oder in Quarantäne. Drei große Ziele hatte die Regierung ausgegeben: Die Krankenhäuser schützen, die Schulen offenhalten und die Unternehmen weiterdrehen lassen. Hinter diesen drei Zielen stehen inzwischen Fragezeichen. Und daran sind auch und vor allem die verschiedenen Behörden des Landes schuld. Jeder hat auf den jeweils anderen gewartet, um zu reagieren. Dadurch kommt das, "was wir uns nicht leisten können", immer näher: ein neuer, zerstörerischer Lockdown.
L'Echo sieht das ähnlich. Der Freitag hat eindrucksvoll bewiesen, dass es in diesem Land keine gemeinsame Vision gibt. Jeder kocht sein eigenes Süppchen. Und der Bürger verliert die Orientierung. Man könnte fast meinen, man nutze die Corona-Krise, um dem Land den Gnadenstoß zu versetzen. Abgesehen von der allgemeinen Kakophonie, ist vor allem die neue Teststrategie ein Desaster. Den Unternehmen fehlen Mitarbeiter, weil asymptomatische Menschen nicht mehr getestet werden und jeder in Quarantäne muss. Die Behörden haben ihren Job nicht gemacht. Resultat: Wir stolpern mit verbundenen Augen durch ein brennendes Haus.
Es ist fünf vor zwölf
"So schnell kann's gehen", kann Het Belang van Limburg nur feststellen. Erinnern wir uns noch an den 23. September? Da entschied der Nationale Sicherheitsrat, noch weitere Lockerungen vorzunehmen. Das war genau vor einem Monat. Jetzt zahlen wir den Preis für diese schicksalhafte Entscheidung. Brüssel und die Wallonie haben es dann versäumt, zeitig die Notbremse zu ziehen. Doch auch Flandern muss aufwachen. Wenn das so weiter geht, dann wird man die Schulen nicht mehr offenhalten können. An dieser Maßgabe - koste es, was es wolle - festzuhalten, das kann sich als kontraproduktiv erweisen.
"Wäre ein Lockdown nicht doch besser gewesen?", fragt sich Gazet van Antwerpen. Irland hat diese Entscheidung gerade getroffen, bei deutlich niedrigeren Infektionszahlen. Was die Sache hier noch schlimmer macht: Viele Botschaften dringen nicht mehr zu den Menschen durch. Das lässt nur eine Schlussfolgerung zu: Wir waren auf diese zweite Welle nicht vorbereitet. Was gerade passiert, das ist nicht allein die Schuld des Virus.
Die Politik trägt nicht alleine die Schuld, glaubt das GrenzEcho. WIR haben nicht hören und nicht lesen wollen. JETZT ist die Zeit, die Situation mit den wenigen verbleibenden Mitteln in den Griff zu bekommen. Es ist fünf Sekunden vor zwölf, für jeden von uns.
Wie sollten jetzt aber auch nicht den Mut verlieren, mahnt De Standaard. Zugegeben: Die Aussichten sind nicht gut. Auf uns warten fünf Monate Winterzeit. Patienten, die in den Fluren liegen, ohne angepasste Versorgung - dieses Schreckensszenario ist jetzt sehr real. Unter diesen Umständen hatte die Regierung De Croo nicht mehr viele andere Optionen: Wir müssen die Karte der nationalen Solidarität ziehen. Jetzt liegt es vor allem an uns, an den Bürgern. Man muss noch nicht mal unter dem Banner der Solidarität marschieren. Es reicht, wenn jeder sein eigenes Interesse vor Augen hat: die Gesundheit.
Roger Pint
Die Glaubwürdigkeit des belgischen Staates und seiner Repräsentanten steht auf dem Spiel.
Auch die Glaubwürdigkeit seiner Bürger, Herr Scholzen.
Zumindest der „Bürger“, die seit Monaten keine Gelegenheit ungenutzt lassen, diese Pandemie zu leugnen, zu verharmlosen und mit unhaltbaren „Argumenten“ die Menschen zu manipulieren versuchen. Leider mit Erfolg.
Mit gesundem Menschenverstand, intellektueller Redlichkeit und Verantwortungsbewusstsein von Seiten der Bevölkerung wäre die sich anbahnende Katastrophe zu verhindern gewesen.
Noch heute fühlen sich Menschen von dieser Pandemie nicht betroffen.
Galten für die politisch Verantwortlichen im Frühjahr noch mildernde Umstände, da sie sich ohne adäquate Instrumente durch einen weitestgehend unbekannten Dschungel kämpfen mussten, hat man die 2. Welle auf allen politischen Ebenen unentschuldbar verschlafen.
Die noch vor 4 Wochen gesendeten Botschaften, falsche Prioritäten und unerklärliche Entscheidungen haben den Menschen eine trügerische Sicherheit vorgegaukelt. Eine verhängnisvolle Fehleinschätzung einer exponentiellen Pandemieentwicklung.
Wir stehen vor einem gesamtgesellschaftlichen Scherbenhaufen.
Nichts deutet darauf hin, dass die Sorglosen unter uns verstanden haben, was die Stunde geschlagen hat.
Die Leugner und Narzissten sind ohnehin nicht mehr zu erreichen.