"50 Prozent mehr Hinweise auf Diskriminierung", titelt Le Soir. "Menschen lassen sich Diskriminierung nicht mehr gefallen", so die Schlagzeile bei De Standaard.
Beide Zeitungen haben sich mit dem Jahresbericht des Föderalen Zentrums für Chancengleichheit, Unia, beschäftigt. Demnach hat die Zahl der Beschwerden wegen Diskriminierung in den vergangenen fünf Jahren deutlich zugenommen. Einen besonders starken Anstieg gab es bei den Beschwerden wegen körperlicher und gesundheitlicher Diskriminierung.
Nur indirekt geht De Standaard allerdings auf das Thema in seinem Leitartikel ein. Darin greift die Zeitung Äußerungen des ehemaligen Unia-Chefs Johan Leman auf. Der hatte in der Wochenendausgabe von De Standaard unter anderem dafür plädiert, dass Homosexuelle und Frauen in Miniröcken gewisse Stadtteile in Brüssel meiden sollten. Ihr Erscheinungsbild wäre dort zu provokativ.
Darüber ärgert sich De Standaard: Wir können doch von Frauen nicht verlangen, sich in der Hauptstadt ihres eigenen Landes "sittsamer" zu kleiden, als sie selbst wollen. Dass Leman dazu rät, "um nicht zu provozieren", ist doch eine verkehrte Welt. Warum sollten Frauen Sexismus in Molenbeek akzeptieren, wenn Sexismus überall anders als Missstand gilt? Das ist ein Einknicken an falscher Stelle. Genauso schädlich ist es auch, wenn der Bürgermeister von Schaerbeek, Bernard Clerfayt, sich nur mäßig über das gefährliche Verhalten der Autofahrer in seiner Gemeinde besorgt zeigt. Oder wenn Molenbeeks Bürgermeisterin Catherine Moureaux die Krawalle zu Neujahr in ihrer Gemeinde als eine "Art zu feiern" verharmlost, schimpft De Standaard.
Die Symbolik des Klatschmohns
PS und Ecolo beginnen am Montag ihre Koalitionsverhandlungen zur Bildung einer neuen Regierung in der Wallonie. Dazu kommentiert La Libre Belgique: Es ist durchaus legitim, dass diese Parteien jetzt eine Regierung bilden wollen. Auch, dass es nur eine Minderheitsregierung sein würde, spricht nicht dagegen. Zwar ist das keine belgische Tradition, aber andernorts wird das durchaus mit Erfolg praktiziert. Sorge bereitet allerdings das Vorhaben gerade von Ecolo, dass die sogenannte "Zivilgesellschaft" mit an der Regierung beteiligt werden soll. Denn diese Zivilgesellschaft ist gerade in der Wallonie äußerst stark politisiert. Viele linksgesinnte Menschen bilden diese Zivilgesellschaft. Es wäre gut, wenn Ecolo und PS das auch deutlich machen würden, meint La Libre Belgique.
L'Avenir schreibt zu den Verhandlungen zwischen PS und Ecolo: Da soll jetzt also eine "Klatschmohn"-Koalition entstehen, wie Ecolo-Ko-Chef Jean-Marc Nollet das Bündnis ja bezeichnet. Das ist gar kein schlechter Vergleich – Klatschmohn ist in der Natur gerade wieder auf dem Vormarsch, nachdem er schon fast als ausgestorben galt. Klatschmohn ist also ein Zeichen der Hoffnung. Und auch des Trostes. Denn dem Klatschmohn sagt man auch eine andere Eigenschaft nach, nämlich Kummer zu lindern und das Vergessen zu fördern, stichelt L'Avenir.
Noch nicht ganz raus? Oder doch?
Het Laatste Nieuws geht auf die Situation in Flandern ein und berichtet: Vlaams-Belang-Chef Tom Van Grieken ließ die Welt am Sonntag wissen, dass er die Chancen als gering einschätzt, an einer Regierung beteiligt zu werden. Das heißt aber auch, dass N-VA-Chef Bart De Wever dem Vlaams Belang die Tür noch nicht ganz geschlossen hat. Warum? Was verspricht sich De Wever davon, den Vlaams Belang so lange im Spiel zu halten? Wer es weiß, hebe bitte den Finger, wünscht sich Het Laatste Nieuws.
Gazet van Antwerpen interpretiert Van Griekens Äußerung anders: Der Vlaams Belang ist also draußen, führt die Zeitung aus. Und damit hat De Wever eine erste Mine, die die Wahlen ihm beschert haben, erfolgreich entschärft. Er hat den Wählern des Vlaams Belang das Gefühl vermittelt, sie ernst zu nehmen. Und geschickt hat er die Verantwortung für das Scheitern der Gespräche nicht dem Vlaams Belang in die Schuhe geschoben, sondern den anderen Parteien. Denn keine dieser anderen Parteien sei bereit gewesen, eine Minderheitsregierung aus N-VA und Vlaams Belang zu unterstützen. Wie De Wever jetzt mit den anderen Parteien eine Regierung bilden wird, bleibt die Frage. Das Minenfeld der flämischen Politik ist groß, hält Gazet van Antwerpen fest.
Mal wieder über den eigenen Tellerrand schauen
Le Soir meint zu diesen und ähnlichen politischen Spielchen: Die Politiker sollten dringend mal wieder über den eigenen Tellerrand schauen. Denn das, was sich zurzeit auf fast allen politischen Ebenen abspielt, ist genau das, wovon viele Bürger die Nase gestrichen voll haben. Das unsägliche Geschacher um die EU-Spitzenposten ist genauso ein Beispiel, wie die lähmende Langsamkeit, mit der die Regierungsbildungen in Belgien vorangehen. Den Anliegen der Gesellschaft wird damit nicht gedient. Sie braucht konkrete Maßnahmen und Lösungen für ihren Alltag. Darum muss es wieder gehen, fordert Le Soir.
La Dernière Heure beobachtet: Am Ende des Schuljahres veröffentlichen immer mehr Eltern die Noten ihrer Kinder im Internet. Viele brüsten sich mit den tollen Ergebnissen. Dabei vergessen sie, dass es die Leistungen der Kinder sind. Und dass so ein Gehabe den Kindern nichts nützt, sondern sie nur unnötig unter Druck setzt, bemängelt La Dernière Heure.
Kay Wagner
Der vom Standard kommentierte Missstand und die Kritik an den Äußerungen des ehemaligen Unia-Chefs sind zentrale Themen der Integrationspolitik.
Sie sind vor allem Gradmesser dafür, ob Integration gelingt oder scheitert.
Dem ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke wurde wohl u. a. eine Aussage zum Verhängnis, in der er Einheimischen, die sich mit der "Willkommenskultur" nicht einverstanden erklären "freistellte", das Land zu verlassen.
Man kann darüber streiten, inwieweit dies - nicht wegen der tödlichen Folgen sondern wegen ihrer polarisiernden Wirkung - eine kluge Aussage war.
Im Umkehrschluss muss es jedoch auch erlaubt sein, darauf hinzuweisen, dass es Menschen aus anderen Kulturkreisen, die nicht fähig oder bereit sind, die Werte einer offenen, westlichen und säkularen Gesellschaft zumindest zu akzeptieren, ebenso "freigestellt" ist, dieses Land zu verlassen.
Wenn Muslime es als Selbstverständlichkeit erachten, dass muslimische Frauen in der Öffentlichkeit ihr Haar mit einem Kopftuch verhüllen, ist jede falsch verstandene Rücksichtnahme und "Selbstzensur" fatal.
Herr Leonard,
grundsätzlich gebe ich Ihnen Recht, nur tappen Sie doch selber in die bekannte Falle, wenn sie schreiben: "Wenn Muslime es als Selbstverständlichkeit erachten, dass...".
Muslime, die Muslime, bestimmte Muslime, einige Muslime? Da fragt man sich schnell: Wen meinen Sie genau? Alle?
Natürlich muss auch Kritik geübt werden können. Nur muss diese halt sachlich, besonnen und präzise formuliert werden. Eine derartig geführte Debatte um Integration vermisse ich schon lange.
Sie haben vollkommen recht Herr Kerres!
Es mangelt an einer offenen, sachlichen, differenzierten und kritischen Debatte zu diesem Thema.
Was die Präzisierung betrifft, ist es im Rahmen von 150 Wörtern leider nicht immer möglich, in die Tiefe zu gehen. Mag jedoch sein, dass ich da in die von ihnen beschriebene Falle getappt bin.
Seien sie aber versichert, dass es mir um eine sachliche und differenzierte Erörterung ohne Verurteilung und Verallgemeinerung geht.
Da sie mir die Gelegenheit zu weiteren 150 Wörtern geben (😉) füge ich gerne hinzu, dass u.a. die Muslime gemeint sind, die für sich beanspruchen, als äußeres Zeichen ihrer Religiosität, ein Kopftuch zu tragen. Ob aus freier Entscheidung oder Druck von wem auch immer. Ich persönlich tue mich schwer zu akzeptieren, dass Frauen in einer von individuellen Freiheiten geprägten Gesellschaft, sich diesem Druck unterwerfen (müssen).
Ich bin gerne bereit, diese Fragen einmal in einem persönlichen Gespräch mit ihnen zu erörtern.
= 148 Wörter
Herr Leonard,
das war ja auch nicht böse gemeint, bot sich aber als gutes Beispiel an, wie schwierig solche emotional beladenen Debatten sind.
Ich bin jederzeit zu einem ausführlichen Austausch bereit. Das Format hier ist dafür ja nicht so wirklich geeignet. Da braucht man mehr als 150 Wörter. Man müsste einfach mal schauen, wie sich das arrangieren lässt.