Es geht gleich in die Vollen, und zwar mit Anlauf. Denn über die üblichen internen Beratungen hinaus haben nach der Sommerpause schon die Interpellationen zum Hochwasser oder zur Corona-Impfung für reichlich Gesprächsstoff im Parlament gesorgt.
Und nicht zuletzt die öffentliche Anhörung zur völlig überlasteten und überaus unfallträchtigen N62. Die Anhörung von gut einem Dutzend Vertretern von Gemeinden, Behörden, Verbänden und Bürgerinitiativen brachte - für jedermann leicht im Internet zu verfolgen (übrigens auch noch im Nachhinein) - die unterschiedlichen Standpunkte sehr anschaulich auf den Punkt, wenn auch nicht auf einen gemeinsamen Nenner - wie soll das bei einem seit Jahrzehnten schwelenden Problem auch gehen?
Anlass für die Anhörung war ein Resolutionsvorschlag der CSP. Sie fordert die wallonische Regierung auf, das Projekt der Umgehungsstraße wieder aufzunehmen. Und die DG-Regierung, gefälligst Druck zu machen. Naja, so steht das da nicht, aber es ist wohl so gemeint.
Dabei ist die Deutschsprachige Gemeinschaft gar nicht zuständig für den Bau der Umgehung. Noch nicht einmal für die dadurch berührten Fragen des Naturschutzes. Aber nicht zuletzt im Selbstverständnis und in der Wahrnehmung der Bürger ist sie (nach den Gemeinden) die erste Adresse, wenn es um Hilfsanfragen und auch um Beschwerden geht.
Diese Rolle als Vermittler, Anwalt, Schlichter oder Bote haben ostbelgische Politiker immer gerne wahrgenommen. Zwar sind die Zeiten (größtenteils) vorbei, wo mit jeder ministeriellen Entscheidung aus Brüssel oder Namur zuverlässig auch der örtliche Parteigenosse als Überbringer genannt wurde. Das Intervenieren und Antichambrieren gehört aber immer noch zum politischen Geschäft. Das sei hier völlig wertfrei festgestellt - es wird ja auch erwartet: Von demjenigen, der seinen Bauantrag nicht durchbekommen hat, seine Rente geregelt wissen will oder sonst mit irgendeiner Behörde im Clinch liegt, wie man so sagt.
Und das gilt erst recht für übergeordnete Interessen wie die Einhaltung der Sprachengesetzgebung (wo die DG auch als Klägerin auftritt), die Volksgesundheit oder in Notlagen. Wenn der Ministerpräsident (wie vor zehn Tagen) fast beiläufig im Parlamentsausschuss ankündigt, dass die Regierung ihr Hilfspaket zugunsten der vom Hochwasser betroffenen Gemeinden auf 30 Millionen Euro verdoppelt (neben anderen Hilfen), wird ihm niemand widersprechen wollen. Auch wenn die DG gar nicht zuständig ist. Sie sei, sagt Paasch, "an die äußersten Grenzen" ihrer Zuständigkeiten gegangen und "sogar darüber hinaus". Die Autonomie als praktisch erfahrbarer Mehrwert. Da fallen einem wenig Gegenargumente ein.
Ähnliches gilt für die Bewältigung der Corona-Krise und das Aushandeln (zumindest der Möglichkeit) ostbelgischer Sonderlösungen. Bei den nackten Zahlen wirkt sich der Skaleneffekt unterm Strich aber nicht immer günstig aus. Nach den Lehren aus dem vergangenen Herbst schauen wir gespannt auf die noch anstehenden Volksfeste.
Auf einem besonders schmalen Grat wandelt ja die in Belgien besonders breit und vielschichtig aufgestellte Gesundheitspolitik. Die ostbelgische Sonderlösung mit zwei (mit Malmedy ja eigentlich drei) Krankenhäusern hat die Besonderheit, dass der eigene Gesundheitsminister gar nicht für alle Handlungsfelder zuständig ist. Wenn er dann über die Grenzen seiner Zuständigkeit hinaus vermittelnd bis fordernd eingreifen will (wie bei der geschlossenen Entbindungsstation) kann es passieren, dass ihm wegen fehlender Einsicht auf die Finger geklopft wird. Nicht etwa von oben, sondern aus den betroffenen Einrichtungen.
Niemand braucht in einer solchen Situation eine "Schwiegermutter", die, wie es die beiden Verwaltungsratsvorsitzenden einmütig feststellten, im falschen Moment Druck aufbaut. Niemand braucht natürlich genauso wenig Politiker, die nur auf dem Balkon stehen und zusehen würden. Gebraucht werden kreative Lösungen, wie sie für andere schwierige Situationen gefunden wurden. Im vorliegenden Fall bei der Durchsetzung von Quoten für die Ausbildung deutschsprachiger Medizinstudenten oder beim Bemühen, die in Ostbelgien ausgebildeten Pflegekräfte durch Anreize auch hier zu behalten. Wie bitte, nicht so einfach? Schon klar, es geht immer gleich in die Vollen.
Stephan Pesch