Dreistigkeit siegt - naja, zumindest scheint das der eine oder andere zu glauben, wenn er genau das Gegenteil von dem tut, was er sagt.
Dreist ist etwa CDH-Chef Benoît Lutgen, wenn er sich nach wie vor allen Ernstes zum moralischen Großinquisitor aufschwingen will, indem er die PS plötzlich für alles Übel dieser Welt verantwortlich macht. Dass die CDH, die einstige PSC, in den 30 Jahren, in denen die Sozialisten an der Macht waren, 25 Jahre lang im Beiwagen saß, wen juckt das schon? Nur zur Verdeutlichung: Dass die PS eine enorme Verantwortung trägt für die aufgeblähten, verfilzten, verschlungenen, und damit ineffizienten Machtstrukturen, darüber besteht kein Zweifel. Dass ein Wechsel hier überfällig war, auch einverstanden. Nur steht es da ausgerechnet einer CDH nicht zu, hier den muskulösen Meister Proper zu geben.
Im Gegenteil: Auch vier Wochen danach wirkt der Coup der CDH immer noch ebenso schmierig wie opportunistisch und obendrein verantwortungslos. Hier ging es allein um niedere Parteiinteressen. Ein Kalkül nach dem Motto: "Der Wind dreht sich? Die PS schmiert ab? Dann müssen wir die absaufenden Sozialisten noch schnell als Trittbrett nutzen, um den Kopf über Wasser zu halten und uns nebenbei noch als Retter zu profilieren".
Wobei eben vermeintlicher Retter sich noch vor drei Jahren den Titel "Brandstifter" verdient hatte. Damals, im Mai 2014, als PS und CDH völlig überraschend lospreschten und im Alleingang im südlichen Landesteil Mehrheiten bildeten, um die anderen vor vollendete Tatsachen zu stellen. Mit dieser halsbrecherischen Aktion haben PS und CDH seinerzeit wissentlich eine Neuauflage der politischen Dauerblockade riskiert. Und trotz der enormen Risiken war sich die CDH damals nicht zu schade, den Mehrheitsbeschaffer für die PS zu spielen, für eben diese PS, die man jetzt verteufelt.
Chaos und Risiken sind jetzt nicht minder groß. Der Tarzan aus Bastogne hatte wohl vergessen, dass man die Liane erst loslässt, wenn eine nächste zumindest in Sichtweite ist, besser wäre noch: man hält sie schon in der Hand. In der Wallonie konnte man ja noch auf die Mitarbeit der Liberalen zählen; es war klar, dass sich die MR diese Gelegenheit nicht entgehen lassen würde, die PS "endlich" in die Opposition zu schicken. Aber in Brüssel? Es war mindestens genauso klar, dass sich weder Ecolo noch DéFI mit Freuden auf dieses Spiel einlassen würden. Ecolo nicht, weil die Partei aus diversen Gründen kein Interesse daran hat, sich jetzt an einer Regierung zu beteiligen, zumal man vor drei Jahren auch klar abgewählt worden war. Und DéFI nicht, weil man im selben Teich fischt wie die CDH und weil die Partei immer noch mit der MR über Kreuz liegt, mit der die einstige FDF ja früher mal ein Kartell gebildet hat.
Ob nun kalkuliert oder VERkalkuliert, aber: Das Risiko einer langanhaltenden Blockade in Brüssel und in der Französischen Gemeinschaft, das war von Anfang an erheblich größer als die Aussicht auf eine schnelle Lösung. Wieder hat Lutgen den Bombenleger gespielt... Resultat: vier Wochen Schlammschlacht, politische Spielchen, Kettenkarussell. Und die Gewissheit, dass die Glaubwürdigkeit der politischen Klasse weiter ramponiert wurde, wenn das überhaupt noch möglich war.
Dass diese Sommerseifenoper längst für Kopfschütteln sorgt, tut aber den parteipolitischen Kabinettsstückchen keinen Abbruch. Plötzlich will sich ein Olivier Maingain auch zum Champion der politischen Ethik aufschwingen. Dreistigkeit siegt, denn: Im Gegensatz zu den Grünen tut der DéFI-Chef nicht, was er sagt. Maingain tritt vollmundig für ein Verbot von Ämterhäufung ein, ist aber gleichzeitig Bürgermeister, Abgeordneter und Parteichef in einer Person. Das im Übrigen seit 20 Jahren. Wie kann so einer plötzlich glauben, dass man ihm die Nummer abkauft?
Und, apropos Dreistigkeit: Der Brüsseler Ex-Bürgermeister Yvan Mayeur hat vor dem Samusocial-Untersuchungsausschuss mal eben einen Rekord gebrochen. Wohl niemand vor ihm hat es geschafft, innerhalb einer Stunde so oft "ich" zu sagen. Dies freilich nicht, um Fehler einzugestehen, sondern um dem Publikum und wohl auch sich selber einzureden, dass doch alles richtig war, nur, weil am Anfang die Absichten vielleicht mal die richtigen waren. Die Dreistigkeit, am Ende noch von einem "Pseudo-Skandal" zu sprechen, wenn man gerade gegen alle Regeln der gesunden Amtsführung verstoßen hat, das ist ebenso selbstherrlich wie tragisch.
Der Sommer 2017, er könnte am Ende der Scheitelpunkt sein, der Moment, als alles kippte. Was passiert, wenn die Menschen einmal ihr Vertrauen in die Politik verloren haben, dafür sind der Brexit oder Donald Trump ebenso anschauliche wie erschreckende Beispiele. Und weil sich die demokratischen Strukturen in den Augen der Bürger irgendwann als ineffizient erwiesen haben, gerät am Ende auch die Demokratie als solche in Gefahr. Und was dann? Man sieht sie schon, all die Zauberlehrlinge, wie sie 2019 mit betretenen Gesichtern in die Kameras blicken und lamentieren, von einer "Katastrophe" schwadronieren, und sich selbst am Ende auch noch allen Ernstes als die "seriöse" Alternative hinstellen.
Eine "seriöse" Alternative, wenn, dann jetzt! In dieser Woche wirkte es einen Moment lang, als habe jemand ein Fenster geöffnet. Als La Libre Belgique berichtete, dass da eine neue Partei in der Mache sei, um einen Kern von - zugegeben - vielleicht erfahrenen aber zumindest nicht allesamt verbrannten Leuten. Unabhängig davon, um wen es im Einzelnen ging, und selbst wenn es am Ende dementiert wurde, das wirkte irgendwie wie ein Silberstreifen am Horizont, nach dem Motto: Es bewegt sich was...! Und da denkt man spontan an Frankreich. Nicht, weil man jetzt Emmanuel Macron partout als Vorbild sehen müsste. Die Wahl in Frankreich ist vielmehr eine klare Warnung, nach dem Motto: Erreicht die Trostlosigkeit einen Höhepunkt, dann kann nur noch eine echte, wirklich frische Alternative in der Mitte den Aufstieg der Extreme verhindern.
Roger Pint