"Wir wollen nichts mit Separatismus zu tun haben, wir wollen ein solidarisches Zusammenleben im Bundesstaat Belgien, mit klaren Zuständigkeiten, auf klar abgegrenztem Territorium, mit klaren Finanzen und klarer Verantwortung. Das ist der Sinn des Föderalismus." Das sagte Gerhard Palm 1992 in einer Stellungnahme für die Partei der Deutschsprachigen Belgier zur Zukunft der Deutschsprachigen Gemeinschaft. Die Aussage ist bezeichnend dafür, dass sich die Vertreter der PDB immer wieder genötigt sahen, ihre Bundestreue zum belgischen Staatsgefüge zu bestätigen - im Unterschied zu den anderen Parteien, aus denen leicht der ungerechtfertigte Vorwurf laut wurde, man wolle eigentlich … nach "drüben" - um nicht einen anderen historisch belasteten Ausdruck zu gebrauchen - und das unabhängig von der Vita der einzelnen Akteure.
"Ich persönlich habe in Lüttich studiert, habe mich in Lüttich in dieser urwallonischen Stadt blendend gefühlt. Und ich habe überhaupt kein Problem mit wallonischen Gemeinden, mit wallonischen Politikern zusammenzuarbeiten, mit Brüssel, mit flämischen, mit Nachbarn aus Deutschland, Luxemburg … spielt überhaupt für mich keine Rolle. Das ist ein Grundelement dessen, was ich Föderalismus nenne", beschreibt Gerhard Palm das heute, mit 77.
Ein paar Jahre vor der eingangs zitierten Stellungnahme, 1983, hatte sich Gerhard Palm in dieser Frage in einem BRF-Rundtischgespräch unter anderem mit Fred Evers und Karl-Heinz Lambertz auseinandersetzen müssen. "Es ist schon eine Zumutung, sich sagen lassen zu müssen: Wir wünschten eine Veränderung der Staatsgrenzen. Wir kennen dieses Argument seit Jahren, in den verschiedensten Formen, (…) das ist blanker Unsinn. Wer unsere Politik durchdenkt bis zum Ende, der wird Folgendes feststellen: Dass wir in der nationalen Verantwortung des Gesamtparlaments bleiben wollen. Und wer so etwas fordert, der kann doch wohl keine Veränderung der Staatsgrenzen wünschen - und die wünschen wir nicht."
Die bewegten 1960er Jahre
Zur Politik gekommen war Gerhard Palm wie viele andere seiner Generation in den bewegten 1960er Jahren. "Ich glaube, Lorenz Paasch hat das mal so genannt: Anfang der 60er Jahre herrschte hier noch so Friedhofsruhe, Grabesstille nach dem Krieg. Das war die Zeit, als diese Ruhe nach und nach aufgebrochen wurde. Da gab es eine Reihe von Vorläufern, die schon viel gearbeitet hatten, und dann bewegten sich mehr junge Leute, mit Hilfe von älteren, klugen Menschen, die den Krieg noch erlebt hatten, aber vor allen Dingen jüngere, die nahmen einfach nicht mehr alles hin, die hinterfragten und wollten wissen 'Warum ist das jetzt so? Warum bekommt meine Oma dieses Dokument in Französisch und muss sich Hilfe nehmen, um das Ding zu übersetzen?' Es ging also darum, selbständiger zu werden, die Bevormundung der französischsprachigen Autoritäten nicht mehr so einfach zu akzeptieren. Und das war in der Schule so, das war hier im Dorf so. Wir waren aktiv in der KLJ, in einer ganz tollen Truppe. Ich bin dann in die CSP eingetreten. Damals gab es hier, besonders in der Eifel den Erneuerungskurs und wir waren voller Tatendrang, bis wir merkten, dass wir ausgebremst wurden. Dann kam es zum Austritt aus der CSP. Dann entstand die CUW, die 1971 zur Wahl antrat. Dann zur Gründung der PDB. Tja, und dann bin ich 1974 in den Rat gewählt worden und 1976 dann in den Gemeinderat. So bin ich in die Politik hineingerutscht."
Wie andere "junge Wilde" in jener Zeit, wie etwa seine Mitstreiter Lorenz Paasch oder Joseph Dries, die wie er an der Bischöflichen Schule unterrichteten, erhielt Gerhard Palm Rat und Schützenhilfe von älteren Politikern innerhalb der PDB. "Ja, da bin ich äußerst dankbar all denen, den klugen, erfahrenen Männern um Reiner Pankert, Wilhelm Pip, Michel Louis, Michel Kohnemann, Norbert Scholzen, Rudi Pankert. Habe ich Klaus Baltus schon genannt? Ich weiß es nicht. Das waren Leute, die zum größten Teil auch lange Erfahrung in der Gemeindepolitik hatten, die mir, die uns sehr, sehr vieles beigebracht haben, die uns auch gemäßigt haben, die uns gebremst haben. Aber das fand ich eine solch tolle Zusammenarbeit mit diesen Leuten und denen bin ich heute noch dankbar, dass sie uns, na, in die kleinen Tricks oder wie soll ich sagen, die Hintergründe der wirklichen Politik eingeführt haben."
Die Erfahrung jener Männer auf Ebene der Gemeinden (bei Michel Louis war es außerdem sein früheres Mandat im Senat für die PFF) hatte das Klima bereitet für die Forderungen nach mehr Selbstbestimmung. "Wenn ich an die Bürgermeisterresolutionen von 1971 denke, das waren richtungsweisende, grundsätzliche Entscheidungen. Diese Bürgermeister, alle, hatten Mut, sich zu äußern. Und ihre Stimme fand bei vielen Gehör, auch im Inland. Ich behaupte, dass die Bürgermeisterresolutionen 1971, zusammen mit dem Tindemans-Besuch 1971, mit dem Besuch von Silvio Magnago aus Südtirol 1971, mit der Nicht-Kooptierung von Johann Weynand 1971, dass all diese Elemente etwas bewirkt haben. Ich glaube, Lorenz Paasch hat gesagt und er hat recht: Diese waren bahnbrechend. Das war der eigentliche Anstoß zu dem, was sich später zu unserer mehr oder weniger großen Selbstständigkeit entwickelt hat."
Ärger und Frust
Für die PDB und ihre Vertreter war diese Entwicklung auch trotz der Einsetzung eines ersten RdK 1973 und der kurze Zeit später folgenden Direktwahl mit viel Ärger und Frust verbunden: Von den traditionellen Parteien in die ständige Oppositionsrolle gedrängt musste sie feststellen, wie die Politik nach wie vor in Verviers oder Brüssel bestimmt wurde - unter Einbeziehung der ostbelgischen Seilschaften. "Das war damals der normale Gang der Dinge. Das war die Zeit, wo man mit dem langen Arm Politik machte. Wir hatten nur die einzige Möglichkeit, indem wir ganz konkret die Themen analysierten, Vorschläge machten ..."
Oder eben den anderen auf die Finger klopften wie das folgende Interview zeigt, das Martin Steins Ende Juni 1983 mit Gerhard Palm führte. "Herr Palm, Sie haben vorgestern Abend in der RdK-Plenarsitzung den Abgeordneten und RdK-Kollegen Albert Gehlen scharf angegriffen und dabei von einem "Skandal" gesprochen. Was ist in Ihren Augen skandalös?" "Mir geht es im Grunde genommen nicht nur um Herrn Gehlen persönlich, sondern um eine Praxis, die wohl allgemein bekannt ist. Dass in diesem Falle Herr Gehlen einem Verein einen Brief geschrieben hat, in dem er ihm mitteilt, dass er eine gute Nachricht habe, die darin besteht, dass er diesem Verein gleich in der Anlage die offizielle Zuschusszusage mit der Unterschrift des Erstministers gleich mitschickt. Wir betrachten dies als unannehmbar, dass die Exekutive diese Zusage irgendeinem Ratsmitglied zustellt, das dann daraus parteipolitisches Kapital schlagen kann. (…) Es sind schließlich Steuergelder, die alle gezahlt haben und die auch an alle nach gleichem Recht und ohne politische Einflussnahme zurückgezahlt werden müssen. Denn wir haben auch noch nirgendwo gehört, dass Herr Gehlen oder ein anderer ein Begleitschreiben versandt habe, wenn die Steuerverwaltung den einzelnen Bürgern die Steuerbescheide zuschickt."
"Es mag sein, dass wir damit ein politisches Tabu aufgegriffen haben. Vielleicht gibt es auch welche, die uns deshalb böse sein werden. Aber wir sind der Auffassung, dass wenn ein vernünftiges Gemeinwesen und ein vernünftiges demokratisches Staatswesen funktionieren soll, dann muss das, was normal ist, auch normal bleiben. Und es darf nicht so sein, dass man glaubt, um zu seinem ganz normalen Recht zu kommen, bedürfe es der politischen Unterstützung. Das ist Gegenteil von dem, was man gemeinhin unter einem Gemeinwesen versteht."
Nun ist dieses Phänomen, das anderswo auch als "Klüngel" bezeichnet wird, keineswegs auf Ostbelgien beschränkt. Als mehrere Kapitel umfassender "Subsidienskandal" warf es aber einen Schatten auf die noch junge Geschichte der Autonomie. Gerhard Palm kennt das Thema aus erster Hand, er war Vorsitzender des 1994/ 1995 arbeitenden Untersuchungsausschusses im Rat der Deutschsprachigen Gemeinschaft. "Ich habe erlebt, wie Vereinsvertreter zu diesem Ausschuss kamen und unter Eid aussagen mussten, wie das Ganze nun wirklich abgelaufen ist. Und ich weiß, dass diese Personen eigentlich nur das ausgeführt haben, was man ihnen direkt oder indirekt nahegelegt hat. Und ich bin sicher, wenn es damals nicht den Schutz des Generalanwalts in Lüttich gegeben hätte, dann wären einige Personen, und zwar nicht die Vereinsvertreter, dann wären einige Personen ins Gefängnis gegangen, das ist hundertprozentig sicher. (…) Allerdings glaube ich auch, dass dieses Thema, das so intensiv damals jedenfalls beleuchtet wurde, eine gewisse Klärungsfunktion hatte. Danach hat man sich nicht mehr so recht getraut."
Gemeindepolitische Laufbahn
Parallel dazu hatte Gerhard Palm in der Gemeinde Büllingen "Karriere" gemacht, war vom einfach Ratsmitglied mit der legendären Wahl der Schöffen im Zuge der Gemeindefusion 1977 zum Bürgermeister aufgestiegen: Von 1989 bis 2006 sollte er dieses Amt innehaben.
Schon 1985 hatte er in einer BRF-Wahltribüne die besondere Bedeutung dieser kommunalen Ebene hervorgehoben. "Es ist so, wenn das Ganze überschaubar bleibt, hat der Bürger mehr Interesse daran, das zeigt sich ja deutlich daran, dass jeder Bürger viel mehr Interesse daran hat, was im eigenen Gemeinderat geschieht als was beispielsweise hier in Eupen im RDG geschieht. Der Bürger schaut den Gemeinderatsmitgliedern viel mehr auf die Finger und das ist gut so, die stehen in unmittelbarem Kontakt und sind ständig vor Ort in der Verantwortung. Wir glauben schon, dass das ein Mittel ist, um dem politischen Desinteresse des Bürgers entgegen zu wirken."
Da hatte das Gemeinschaftsparlament, das noch Rat hieß, längst die in den Anfangsjahren geforderte Dekretbefugnis - und eine eigene Regierung oder Exekutive, die es kontrollieren sollte. Der Stichtag, der 30. Januar 1984, wird demnächst ebenfalls gefeiert.
"Aber ein paar Jahre davor, 1980, hatte es die definitive Einverleibung der DG in die Wallonische Region gegeben. Das war die Zeit, als die PDB die schwarzen Fahnen aufhängte. Das war für die weitere Entwicklung bis heute ein ganz entscheidendes Datum. Vielleicht wird es heute etwas unter den Teppich gekehrt. Das war ein ganz entscheidendes Datum zum einen für die politische Entwicklung des Rates, der Regierung. Wir sind in einer Zwittersituation: eine selbstständige Gemeinschaft, die mehr und mehr Befugnisse erhalten hat, aber immerhin noch Teil, Unterteil der Wallonischen Region. Deshalb dann auch nach und nach die Übertragung von einzelnen Befugnissen, was insgesamt positiv ist. Aber es ist immer diese Abhängigkeit. Und zum anderen: wir haben eben von dem langen Arm gesprochen, der war bis dahin eher schwarz, also eher CSP, dieser lange Arm wurde jetzt mehr und mehr rot. Jetzt musste man eher über die sozialistischen Kanäle gehen und meine Meinung, meine Auffassung, Überzeugung ist immer die noch: Das war die Grundlage für viele, wenn nicht alle politischen Karrieren der Sozialisten."
Weil die immer mal wieder beschworene Wiedervereinigung der christlichen Kräfte von CSP und PDB nicht mehr als ein Spuk war und sich vielmehr die Fronten zwischen beiden Lagern wegen der Niermann-Affäre noch verhärteten - sollte eine dieser sozialistischen Karrieren, die von Karl-Heinz Lambertz, letztlich dafür ausschlaggebend sein, dass die PDB (in der Zusammensetzung mit Juropa und Unabhängigen) 2004 dann doch in die Regierungsverantwortung kam. "Das war natürlich für mich eine bestimmte Änderung. Ich habe damals gesagt: Bisher habe ich auf dem Zug gesessen und konnte nur hier und da meine Kommentare dazu abgeben, jetzt sitze ich quasi mit im Führerhaus des Zuges. Das war eine gewisse Änderung, aber an meiner Arbeitsweise hat sich nichts geändert. Ich habe immer noch genauestens nachgeguckt, die Probleme analysiert, die Lösungen und die Vorschläge geprüft. In der Opposition nimmt man Stellung, sobald die Regierung etwas vorgeschlagen hat, dann ist die Entscheidung quasi gefallen und man kann nur reagieren. Ist man in der Mehrheit - das habe ich in der Gemeinde später ja auch erlebt - dann muss man vorher seinen Standpunkt einbringen. Das habe ich in diesen Vorgesprächen mit den Koalitionspartnern, mit der Regierung auch getan. Vielfach ist das auch akzeptiert worden. Und im Nachhinein muss ich sagen eine wirklich ganz schlimme Kröte habe ich nie schlucken müssen. Und wenn man mir vorhält, ich sei mit der Regierung, an der ich beteiligt war, milder umgegangen. Ja, es ist so üblich, dass die Opposition gelegentlich etwas schärfer formuliert."
Wobei der Altphilologe und Lehrer für Latein und Griechisch immer für seine geschliffenen Reden bekannt war. Mitunter bediente er sich dabei auch bei antiken Vorbildern, wie 1984 in der Debatte zur Regierungserklärung der frisch eingesetzten Exekutive: "Der Berg kreiste und gebar eine Maus. So dichtete der altrömische Fabeldichter Phaedrus vor zirka 200 Jahren. Allerdings konnte er nicht ahnen, um welch wundersame Maus es sich hier handeln würde."
Heute sagt Gerhard Palm: "Ich habe mich immer an den alten rhetorischen Grundsatz der Lateiner gerichtet: Beherrsche das Thema. Die Worte werden folgen."
Ausstieg in Stufen: 2006, 2008 und 2010
Nach fast 37 Jahren war dann Schluss, wie Gerhard Palm, Mitte Dezember 2010 in einem BRF-Interview erklärte. "Wie heißt es so schön im Volksmund: Wenn es am schönsten ist, soll man aufhören. Wir sitzen in der Mehrheit, wir stellen zwei Minister, wir können sehr viel gestalten. Dass jüngere Leute nachrücken, ist ganz normal. Aus dem Grunde will ich nicht an dem Stuhl kleben, bis man mich im Sessel aus dem Parlament herausträgt."
Vorher war er 2006 schon aus der Gemeindepolitik und 2008 aus dem Schuldienst ausgeschieden. "Ich hatte mir vorgenommen, 40 Jahre zu unterrichten. Das habe ich geschafft, von 1968 bis 2008. Und dann in der Reihenfolge 2006, 2008 kam logischerweise 2010. Das war der Zeitpunkt, um aufzuhören. Aber ich habe im Nachhinein festgestellt, wie schön es manchmal ist, nicht manchmal, immer ist, ohne Politik zu leben. Weitab von der Politik zu leben. Ich habe entdeckt, dass es außerhalb der Politik sehr, sehr viel Interessantes zu tun gibt."
Darum verfolge er das politische Geschehen auch nicht mehr so eng, sagt Gerhard Palm. Er kann sich aber immer noch darüber ärgern, wenn ihm die DG "mehr und mehr wie ein Geldesel" vorkomme, wenn den Schulen immer mehr und immer Neues abverlangt werde oder wenn er sehe, welche Entscheidungen bisher in der neuen Zuständigkeit der Raumordnung getroffen worden seien.
Eines seiner großen Anliegen ist bis heute nicht erfüllt: die Übertragung der Zuständigkeiten und Finanzen der Provinz! "Da denke ich zurück mit großem Bedauern an die Jahre 2000, 2001. Damals übertrug der Föderalstaat die Provinzbefugnisse an die Regionen: Wallonie, Flandern, Brüssel. Und von flämischer Seite, von der Volksunie lag der Vorschlag auf dem Tisch, die Provinzbefugnisse auch an die DG zu übertragen. Der Ausschuss des Rates wurde in die Kammer eingeladen, in den Senat eingeladen, um dort zu sagen: 'Wie steht ihr zu diesem Vorschlag?' Leider war ich der Einzige, der dafür gesprochen hat. Alle anderen waren dagegen. Und sie haben gesagt: 'Wir wollen natürlich auch die Provinzbefugnisse, aber wir werden das mit der Wallonischen Region regeln.' Nun, das ist jetzt, wenn ich richtig rechne, 22 Jahre her. Seitdem hat sich in dem Bereich noch nichts getan. Das wäre an und für sich nicht so schlimm. Auf politischer Ebene ist die DG mittlerweile stärker geworden. Aber das hat wohl eine große Auswirkung auf alle Immobilienbesitzer in unserer Gemeinschaft. Die haben in diesen Jahren, schätze ich mal, so 300 Millionen Euro Immobiliensteuer zur Provinz überwiesen und das ist natürlich absolut inakzeptabel. Hätte man damals geschaltet, dann wäre das nicht passiert."
Stephan Pesch
Bei der Schaffung der Autonomie wurde die wallonische Bevormundung durch eine andere abgelöst. Das ist alles.
Autonomie hatte nicht automatisch mehr Demokratie zur Konsequenz. Denn dann müsste es ja auch mehr direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild geben.