"Wenn ich zu Ende der 1960er Jahre gewisse Stellungen eingenommen habe, die manche als minimal betrachtet haben, so fußten diese Stellungnahmen auch immer auf der nationalen Politik in diesen Bereichen. Jetzt, nachdem die Regionalisierung und die Förderung der Gemeinschaftspolitik auf nationaler Ebene solche Formen angenommen hat, wie es jetzt der Fall ist, davon war in den 1960er Jahren gar keine Rede. Man dachte gar nicht so weit."
Es klingt wie eine späte Rechtfertigung, was Willy Schyns 1981 in einem BRF-Interview äußerte - in einer Bilanz nach 20 Jahren als belgischer Kammerabgeordneter. Schyns war mit diesem Mandat in die politischen Fußstapfen eines anderen Kelmisers getreten: Peter Kofferschläger, der 1960 mit nur 50 Jahren gestorben war.
Der "Vervierser" in Kelmis
Wie Kofferschläger entstammte Willy Schyns der Christlichen Arbeiterbewegung (CAB). Schon als 14-Jähriger hatte er in der Welkenraedter Céramique handwerkliche Erfahrung gesammelt, wurde Grubenarbeiter bei "Wérister". Im Krieg stand er auf der Seite der Widerständler. Wie Peter Kofferschläger genoss er in Kelmis hohes Ansehen.
Mathieu Grosch, Jahrgang 1950, erinnert sich. "Wir Jugendlichen hatten unseren Jugendtreff in der Patronage und da war die Bibliothek der CAB. Unten war der Stammtisch der CAB, wo man dann auch plötzlich den Willy Schyns kennenlernte, als Jugendlicher in der Zeit. Und er war für uns der '"Vervierser', der nach Kelmis kam."
Für kurze Zeit war Willy Schyns Gemeinderatsmitglied in Andrimont. Und wäre er nicht unverhofft so früh Abgeordneter geworden, hätte er sich wohl noch intensiver der Gewerkschaftsarbeit gewidmet", mutmaßt Heinz Warny in seiner Kurzbiographiensammlung "Lebensbilder aus Ostbelgien".
Mathieu Grosch ergänzt: "Verviers, Lüttich, Zechen und so weiter, CAB. Das war die Realität, in der Willy Schyns in Kelmis ankam und das war eine Realität, die er sehr schnell auch mitteilen konnte, denn er war ein sehr bodenständiger Typ und sagte auch immerIch habe nie viel studiert, aber deshalb bin ich nicht dumm und kann mit gewissen Sachen sehr gut umgehen'. Er war auch relativ autoritär."
Wie andere aus seiner Generation - allen voran sein Parteikollege Johann Weynand - setzte sich Willy Schyns dafür ein, dass die vielschichtigen Nachkriegsprobleme geregelt werden. "Damals galt es zuerst dafür zu sorgen, die sogenannte Rehabilitation unserer Bevölkerung zu erlangen. Den famosen Artikel 123sexies des Strafgesetzbuches. Das haben wir doch schön hinbekommen. Dann die gesamten Nachkriegsgeschichten, ob das jetzt Kriegsschäden an Gütern waren, ob das Umsatzgeld war, ob das Arbeitsunfälle waren. Na ja, die ganzen sozialen Aspekte, die sich doch aus diesen vier Jahren Annexion ergeben haben. Ich glaube, wir haben sie doch alle so mit und mit über die Bühne gebracht."
Mahner oder Bremser?
Bis hin zur Anerkennung der sogenannten "Zwangssoldaten" und aus Sicht von Willy Schyns sicher nicht zu vernachlässigen: der Widerständler. Sehr bald ging es aber auch um die Zukunft, sprich: die Stellung der Deutschsprachigen im sich reformierenden belgischen Staat.
In einem Interview fragte Hubert Jenniges 1969: "Herr Abgeordneter Schyns, Sie sprechen im Namen Ihrer Partei, der wallonischen PSC. Wie stellt sich nun die wallonische PSC die Regelung der Kulturautonomie für die deutschsprachige Bevölkerung vor?" Darauf Willy Schyns: "Herr Jenniges, ich kann hier nur wiederholen, dass die wallonische CSP dieser Kulturautonomie seit jeher positiv gegenüber steht. Und dass sie auch alles daran setzen wird, jetzt im Rahmen der Reformen, die angestrebt werden, diese Kulturautonomie in der Tat zu verwirklichen. Und es soll in dieser Hinsicht für die deutschsprachige Gegend ein Kulturrat geschaffen werden, der dann auch wirklich Kompetenzen erhalten soll."
Als aber der ostbelgische PFF-Senator Michel Louis am 28. April 1970 im Senatsausschuss erreichte, dass die Mitglieder dieses Kulturrates "gewählt werden" sollten, sprach Schyns von einem "Rückschritt": "Ich kann es mir einfach nicht vorstellen, dass der Kulturrat für unsere Gegend direkt durch das Volk gewählt werden soll. Gewiss, man mag diese Möglichkeit als eine sehr demokratische Formel ansehen. Aber wenn man die Eigenart unserer Gegend berücksichtigt und wenn man die Geschichte unserer Gegend auch bedenkt, mit all dem Für und Wider, das sich in den letzten 50 Jahren in der Gegend abgespielt hat, dann bin ich der Meinung, dass man der deutschsprachigen Gegend in Belgien einen sehr schlechten Dienst erweist, wenn man sagt: 'Das Volk soll die Mitglieder des Kulturrates selbst wählen.'"
Schyns sagte weiter, "dass 25 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges endlich diese Ressentiments begraben oder zum größten Teil verschwunden sind." Und er sei sicher, dass im Falle einer Direktwahl "all diese Ressentiments wieder auftauchen würden. Dass man dann diejenigen, die prodeutsch oder probelgisch sind, wieder katalogisieren würde und dass es dann wirklich zu großen Missständen in der Gegend kommen würde, die wir wirklich nicht nötig haben."
"Ich glaube nicht, dass er gegen Autonomie war", sagt Mathieu Grosch über Willy Schyns. "Er war nicht überzeugt, ganz eindeutig. Aber er meinte, man braucht eine gewisse Zeit. Und ich glaube, da hat er auch nicht unrecht, denn seine Generation, die Generation der Parlamentarier, die er damals getroffen hat, die war schon noch im Trauma des Krieges."
Willy Schyns verstand sich als Mahner. Kritiker sahen in ihm einen "Bremser" in Sachen Selbstbestimmung der deutschsprachigen Belgier. Kategorisch lehnte der Abgeordnete einen eigenen Wahlbezirk ab, wie er Hubert Jenniges auf eine entsprechende Frage antwortete: "Da muss ich Nein sagen. Ich habe jetzt neun Jahre die deutschsprachige Gegend im Parlament vertreten und stelle fest, wie groß die Schwierigkeiten sind, mit unseren Belangen an den Mann zu kommen. Und ich sehe nur eine Lösung: dass die Belange der Ostkantone stets durch eine große Partei wahrgenommen werden."
Offenkundig ist, dass Willy Schyns "für seine Kirche predigte". Die CSP war zu jener Zeit die mit Abstand stärkste Partei, auch wenn sie im Laufe der Wahlen Federn ließ und ihr zunächst die Liberalen, dann die Christlich-Unabhängige Wählergemeinschaft und die daraus hervorgehende PDB auf die Pelle rückten.
Deren Forderungen, aber auch der Druck aus der eigenen Partei, ließen den Abgeordneten Willy Schyns forscher auftreten - so Anfang 1972 im Interview bei Peter Thomas. "Ich habe klar und deutlich vom Erstminister verlangt, einen Staatssekretär für unsere Gegend zu bestimmen, der diese jetzigen kulturellen Probleme zu übernehmen hat. Ich habe ihm die Frage gestellt: 'Wer soll jetzt das Gesetz ausarbeiten, wonach unser Kulturrat seine Kompetenz und eine Zusammenstellung erhält?' Daraufhin ist der Erstminister mir die Antwort schuldig geblieben. Und ich habe klar gesagt: 'Wir sind die Bevormundung, sei es von flämischer, sei es von frankophoner Seite, müde. Und wir wollen die Geschicke unserer Bevölkerung selbst in die Hand nehmen und dazu verlangen wir einen Staatssekretär."
"Soweit meine Damen und Herren, das Gespräch mit dem Abgeordneten Schyns. Am späten Nachmittag nun wurde bekannt, dass Premierminister Eyskens die Aufnahme weiterer Staatssekretäre in die Regierung zumindest zum jetzigen Zeitpunkt ablehnt. Nach dem Kabinettsrat in der Rue de Loi sagte der Premierminister, er verspüre im Augenblick nicht den Wunsch, erneut die Verhandlungen über die Regierungsbildung aufzunehmen. Dazu sind wir zu müde, meinte Eyskens. Im Übrigen wisse man ja, wie solches zu verlaufen pflege: Habe man die Absicht, einen neuen Staatssekretär zu ernennen, dann komme man schnell an dem Punkt an, dass man deren vier ernennen müsse", so Peter Thomas abschließend.
Nur neun Monate im Amt
Am 26. Januar 1973 sollte es so weit sein: Willy Schyns wurde in der Regierung unter Premierminister Edmond Leburton Staatssekretär für die Ostkantone und für den Tourismus.
"Der neue Staatssekretär für Fragen des deutschen Sprachgebiets und für Fremdenverkehr, Willy Schyns, ist nun am anderen Ende der Leitung" (bei Hubert Jenniges). "Ich habe heute schon mit Minister Tindemans gesprochen und mit Innenminister Close", erklärt Willy Schyns. "Ich werde praktisch diesen Gesetzesvorschlag für die Schaffung des Rates der deutschen Kulturgemeinschaft übernehmen und denselben im Parlament vertreten und dafür Sorge zu tragen haben, dass dieser Rat so schnell wie möglich eingeführt und eingesetzt wird."
Das war dann am 23. Oktober 1973 der Fall: "Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe die große Ehre, Sie heute hier recht herzlich willkommen zu heißen und den ersten Rat der deutschen Kulturgemeinschaft einzuführen", eröffnete der Staatssekretär die Sitzung. "Ich heiße Sie nochmals recht herzlich willkommen und hoffe, dass dieser Rat im Interesse unserer deutschsprachigen Bevölkerung recht gute Arbeit leisten wird."
Und beim folgenden Festakt: "Man sollte mit dem Wort "historisch" nicht leichtfertig umgehen, aber der heutige 23. Oktober 1973 wird für immer in die Geschichte des deutschsprachigen Belgiens eingehen. Wenn wir also heute die Kulturautonomie ausrufen, dann nicht etwa mit der Absicht, die fruchtlose Selbstspiegelung hochleben zu lassen, sondern im Bewusstsein und Selbstbewusstsein die eigenen Möglichkeiten der Selbstentfaltung frei und stark ausschöpfen zu können. Das wird und kann nur geschehen, wenn der deutschen Muttersprache unserer Bevölkerung absoluter Vorrang gegeben wird und hier hat das Unterrichtswesen, das doch neben dem Elternhaus die Basis jeder Kultur darstellt, eine wesentliche Aufgabe zu erfüllen."
Die Einführung des ersten RdK war gleichzeitig die letzte Amtshandlung für den Staatssekretär Willy Schyns: In Brüssel war gerade die Regierung umgebildet worden, sein Mandat damit nach knapp neun Monaten zu Ende.
20 Jahre Kammerabgeordneter
Nur ein paar Monate später zog Schyns bei der ersten Direktwahl in den RdK ein, machte aber gleich wieder Platz für einen Nachrücker: Als Kammerabgeordneter verfügte er über ein beratendes Mandat im RdK. Anfang 1977 rückte er selbst als Ersatz ins Europäische Parlament nach: der PSC-Abgeordnete René Pêtre, ein Bergarbeiter und Gewerkschafter wie Schyns, war kurz zuvor vestorben.Ab 1979 wurde auch dieses Parlament direkt gewählt.
Sein letztes volles Mandat am Kaperberg nahm Willy Schyns von Ende 1981 bis 1986 wahr. Da war er schon nicht mehr Abgeordneter in Brüssel. Schyns gestand in einem Bilanz-Interview, "dass nach 20-jähriger Fahrt nach Brüssel, den Problemen in Brüssel und den Problemen der Gemeinde, sagen wir es offen, eine gewisse Amtsmüdigkeit für die nationale Politik eintritt. Ich will das nicht rechtfertigen, aber man wird jeden Tag älter. Und ich glaube, dass man zeitig den Entschluss nehmen muss, Jüngeren die Verantwortung zu überlassen, statt dazu gezwungen zu werden."
20 Jahre Bürgermeister von Kelmis
Ebenfalls 20 Jahre lang, von Ende 1964 bis 1985, war Willy Schyns der Bürgermeister seiner Gemeinde Kelmis - und damit ein Vorgänger von Mathieu Grosch, "Er sagte sehr oft: 'Was ich in Brüssel mache ist jetzt nicht nur etwas für Brüssel oder für die Provinz, es ist auch für euch in Kelmis und für den Bürger wichtig.' Ich finde, diese Brücke hat er gut gemacht. In seiner Art natürlich. Er war, wie ich eben sagte, sehr autoritär. Und wenn er keine Antwort fand, erfand er sogar ein Gesetz. Wenn man dann das überprüfte, merkte man, dass das Gesetz gar nicht bestand. Aber er war in dem Moment aus dem Schneider. Das war dann auch seine Schläue, die er dann noch hinzu brachte."
Gestorben ist Willy Schyns im Alter von 78 Jahren am 15. November 2001 - am Tag der Deutschsprachigen Gemeinschaft.
Stephan Pesch
Gut gemacht dieser Artikel.
Zu der Zeit konnte ein Arbeiter noch Abgeordneter werden. Das sollte doch zu denken geben.