Die Bilder sind immer noch präsent. Kurz vor der Amtseinführung von Joe Biden protestieren Menschen vor dem US-amerikanischen Kapitol. Auch der ehemalige Präsident Trump hat zu der aufgeheizten Stimmung beigetragen. Etwas später kommt es zum Sturm des Kapitols, es waren - sonderbarerweise - nur wenige Sicherheitsleute präsent.
Wütende Demonstranten im Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft - ein absurder Gedanke. Aber bei der Querdenker-Demo in Berlin von September 2020 hatten einige wenige Demonstranten versucht, in den Reichstag einzudringen. Das schafften sie nicht, trotzdem reichte es, um auf den Treppen zu triumphieren. Das war nicht ganz so weit weg.
Beides zeigt auf, dass politische Debatten an ihre Grenzen geraten. Es geht nur noch sehr bedingt um den konstruktiven Austausch von Informationen oder Argumenten. "In beiden Fällen haben wir es mit Phänomenen zu tun, wo Radikale, ganz offensichtlich Rechtsradikale, inmitten von Demonstrationen aufgetreten sind, die ein relativ breites Spektrum der Gesellschaft versammelt haben", erklärt Hans-Jörg Siegwart, Professor für Politische Wissenschaft an der RWTH Aachen.
"Es ist also sozusagen bestimmten radikalen Gruppen gelungen, Demonstrationen für sich zu nutzen und ein Stück weit auch zu instrumentalisieren, die im Ganzen betrachtet dann doch erstaunlich unterschiedliche Leute sozusagen versammelt und auf die Straße gebracht haben."
Es ist ein weiter Weg von Washington oder Berlin nach Ostbelgien. Doch ist ein Angriff auf das vielzitierte Herz der Demokratie nicht auch ein Angriff auf alle Demokratien? Gibt es dann nicht auch Grund für die Deutschsprachige Gemeinschaft, sich Gedanken zu machen? "Auf der einen Seite glaube ich tatsächlich, dass beide Ereignisse in gewisser Weise symptomatisch für ganz grundlegende und generelle und weitreichende Probleme sind, mit denen wir es aktuell in den demokratischen Gesellschaften insgesamt zu tun haben."
Zu den grundlegenden und weitreichenden Problemen gehört eine Vielzahl an Krisen: Wirtschaftskrise, Flüchtlingskrise, Klimakrise und jetzt Coronakrise. Die Kontexte scheinen immer bedrohlicher zu werden, mediale Anhaltspunkte wandeln sich. Öffentlich-rechtliche Medien müssen ihren Platz neben privaten Blogs und sozialen Netzwerken behaupten.
"Alternative Medien" werden bedeutsamer, alternative Diskurse gewinnen an Klicks und Einfluss. Und das über Technologiegrenzen hinaus. "Es ist ja beinahe so, könnte man sagen, als ob hier fragmentierte und relativ weitgehend hermetisch abgeschlossene Diskurse, die virtuell schon lange existieren und im Netz auch schon lange enorme Dynamiken entfalten, jetzt plötzlich oder zumindest scheinbar ganz plötzlich ins grelle Licht der ganz realen Öffentlichkeit treten", so Prof. Dr. Hans-Jörg Siegwart.
Es gibt neue Meinungsmacher, die versuchen die Rolle der Medien zu übernehmen. Die klassischen Medien müssen ihre Position behaupten. Äußerlich ist professioneller Journalismus von Meinungsmache immer schwieriger zu unterscheiden. Jeder kann inzwischen berichten und beeinflussen. Umstände, die verwirren. "Es ist eine Art von Verunsicherung und vielleicht auch ein gradueller Orientierungsverlust, der sich eben gerade auch darin zeigt, dass vielen Menschen innerhalb dieser gesellschaftlichen Mitte offenbar zunehmend die Kraft, die Entschlossenheit, vielleicht auch sozusagen der bürgerschaftliche Instinkt dafür fehlt, sich in aller Klarheit von radikalen Gruppierungen, gerade vom rechten Rand auch wirklich abzugrenzen."
An der Querdenker-Demo in Berlin hatte auch eine kleine Gruppe Ostbelgier teilgenommen. Die hatten rückblickend Schwierigkeiten, sich abzugrenzen und waren gut darin zu relativieren. In Telegram-Chatgruppen mit ostbelgischem Bezug wird inzwischen vor ideologischer Säuberung gewarnt, Ausschnitte von Eva Hermann oder Ken Jebsen werden unkommentiert weiterverbreitet.
Wie sieht es in der DG aus?
Wie konkret betreffen all diese Entwicklungen die Deutschsprachige Gemeinschaft? Sind Washington und Berlin überhaupt relevant für die ostbelgische Politik? "Natürlich hat das eine Relevanz, beziehungsweise die Frage, wie das zustande gekommen ist, hat eine Relevanz. Man muss sich schon die Frage stellen, wie Menschen zu komplett anderen Weltsichten kommen - innerhalb kürzester Zeit", sagt Freddy Mockel (Ecolo).
Diese komplett anderen Weltsichten betreffen immer öfter die Sache an sich. Um die Handhabung geht es nicht mehr. Auch aktuell stellt sich bei einigen nicht mehr die Frage, wie die Pandemie bekämpft werden kann, sondern ob es überhaupt eine Pandemie gibt. Inwiefern dieses Problem Ostbelgien betrifft, darüber herrscht unter den Parlamentariern Uneinigkeit. "Wenn dazu dann auch noch die Realität letzten Endes gespalten wird, dann kommen wir in die Situation, dass die Basis der Kommunikation nicht mehr vorhanden ist", sagt Jérôme Franssen (CSP).
"Wenn wir das jetzt mit der Situation in Ostbelgien vergleichen, dann müssen wir schon sagen, dass diese Form hier nicht auf uns zutrifft. Hier werden keine Wahlergebnisse geleugnet oder hier wird die Polarisierung in der Politik nicht in der Form betrieben. Aber auch in Ostbelgien erleben wir durchaus eine Polarisierung, die aber sehr viel mehr darauf basiert, inwieweit das Vertrauen in die Politik gegeben ist und inwieweit nicht."
Hinzu kommt, dass Meinungen immer rigider werden. Polarisierung, wie Hans-Jörg Siegwart es nennt. Es entstehen abgetrennte Räume, die nur noch für sich funktionieren. "Es ist eine Gefahr, sich nur auf eine Meinung zu versteifen und nicht die Gegenmeinung überhaupt zu analysieren, und sich auch mit der auseinander zu setzen", kommentiert Gregor Freches (PFF). "Und das birgt in meinen Augen die meiste Gefahr. Weil die Leute sich auch nicht mehr die Zeit nehmen, diese Informationen genauer zu studieren."
Nach und nach werden dann doch Probleme aufgezählt, die auch Ostbelgien mitprägen. "Was aber sehr wohl vorhanden ist, das ist eine gewisse Wut und das ist auch etwas, was man durchaus erlebt: sehr starke Emotionen. Das denke ich schon, existiert hier", sagt Jérôme Franssen.
Auch Freddy Cremer (ProDG) betont allgemeine Probleme, die in Ostbelgien wirken. "Ich glaube, man kann eine gemeinsame Tendenz feststellen, das ist die zunehmende Atomisierung oder Fragmentierung der politischen Meinung. Das ist möglich geworden durch die technologische Revolution, die es gegeben hat im Bereich der modernen Kommunikationsmittel."
"Aber wie jeder weiß, die modernen Kommunikationsmittel sind natürlich auch ein Ort für Hassparolen, für Fake News und so weiter. Das ist natürlich etwas, was sich nicht nur auf Berlin oder Washington beschränkt. Das ist ein allgemeines Problem", so Cremer.
Allzu weit weg liegen die Probleme also doch nicht. Soziale Aggressivität, Abspaltung, Halbwahrheiten und Hassparolen sind auch in Ostbelgien ein Thema. Verdeutlicht wurde das erst vor kurzem durch den Rücktritt des ehemaligen Bildungsministers Harald Mollers.
Welche Rolle spielt hier das Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft? Wie kann das PDG diesen Entwicklungen entgegenwirken? An welchen Schnittstellen muss gearbeitet werden? Ganz allgemein unterstreichen die Fraktionen, dass die Bindung zwischen dem Parlament und der Bevölkerung gestärkt werden muss. Einbeziehung und Partizipation sind Stichworte, die öfter genannt werden. Und Teilhabe soll über den Wahltag hinausgehen.
Der Bürgerdialog wird oft hervorgehoben. "Wir als politisch Verantwortliche und auch als gewählte Volksvertreter würden einen groben Fehler machen, wenn wir uns von der Bevölkerung entfernen würden, um nicht zu sagen entfremden würden", findet Charles Servaty (SP).
Die Fraktionsvertreter stellen zwei Dinge voran. Zum einen die Kleinheit Ostbelgiens: Jeder kann mit jedem Kontakt aufnehmen. Etwas überspitzt gesagt: Jeder kennt jeden. Ein Anruf und man landet bei der Schöffin, beim Bürgermeister oder der Parlamentarierin. Viele sehen die Kleinheit als Einladung zum Mitmachen. Ob die Kleinheit nicht auch ab und zu abschreckt, bleibt zu diskutieren.
Doch die Nähe allein reicht nicht, um den politischen Dialog möglich zu machen. "Ich glaube, Politik ist auch ein Metier. Und da ist es auch kompliziert und komplexer", sagt Freddy Mockel. "Und dann muss einfach jeder die Komplexität einer Situation erstmals akzeptieren. Er muss nicht akzeptieren, was man ihm als Argumente vortischt. Ich glaube, das Wichtige ist auch, und deshalb ist das für mich ein Mittel, um Terrain zurückzugewinnen, maximale Transparenz. Man muss dann schon mehr erklären, besser erklären."
Neben dem Erklären muss dafür gesorgt werden, dass jeder die nötigen Instrumente erhält, um sich mit Politik auseinanderzusetzen. Politische Bildung, gerade bei Jugendlichen, wird von vielen als Priorität angesehen. Es gibt also Voraussetzungen zum politischen Dialog.
Dieser Dialog zeigt allerdings immer mehr Bruchstellen auf. Wie die Beschreibungen von vorhin zeigen. Ähnliches konstatiert auch Michael Balter (Vivant). "Im Vorfeld bereits spürte man, dass die Demokratie, so wie sie über Jahrzehnte funktioniert hat, von den Bürgern nicht mehr angenommen wurde. Die Bürger fühlen sich einfach nicht mehr von den Parlamenten vertreten."
Es gehört zum vivantschen Politikverständnis dazu, das Politische als fehlerhaft zu beschreiben. Das verschafft Legitimität. Mit Erfolg. Seit 1999 gewinnt die Partei von Wahl zu Wahl dazu. Doch was führt laut Vivant zur Entfremdung von Bürgern und Parlament?
"Das Problem ist auch: Wir haben zu viele Kompromisse in der Politik", erklärt Michael Balter. "Man geht zu viele Kompromisse ein und verbiegt sich dann soviel. Und wir wollen uns nicht verbiegen. Es gibt sicherlich gewisse Punkte, da kann man Kompromisse eingehen, und dazu wären wir auch bereit. Aber die großen Linien, die behalten wir bei und da gehen wir keine Kompromisse ein."
Gibt es zu viele Kompromisse? Kann es das überhaupt geben? Das Parlament ist eigentlich der ideale Raum der Kompromissfindung. Dort treffen Meinungen aufeinander. Argumente müssen ausgehalten werden. Wie damit umgegangen wird, ist eine andere Frage. Die anderen Parteien betonen, dass gerade der Kompromiss auf politischer Ebene wichtig ist.
"Alle Fraktionen können sich zu Wort melden, alle Fraktionen können Dekrete einreichen, alle Fraktionen können Resolutionen einreichen", sagt Gregor Freches. "Und können auch dadurch die politische Arbeit, besonders im PDG, beeinflussen. Wir alle, alle Fraktionen, haben über Fünf- beziehungsweise Sechs-Parteien-Gespräche uns besonders in der letzten Legislaturperiode immer wieder getroffen und zu wesentlichen Themen ausgetauscht."
Auf politischer Ebene besteht tatsächlich ein Spannungsfeld: zwischen Kompromisssuche und Profilierung. Mit Schwierigkeiten für jede Partei, wie Freddy Cremer betont. "Wir Parlamentarier im PDG müssen uns auch ständig davor hüten, dass wir komplexe politische Sachverhalte verkürzt wiedergeben. Eine zu große Verkürzung kann immer zu einer Verfälschung führen und dieser Tendenz darf man nicht erliegen. Und deswegen ist es wichtig, glaube ich, dass man sich Zeit nimmt für diese politische Debatte. Politische Debatte ist das, was im Parlament stattfinden muss.“
Politische Debatte soll im Parlament stattfinden. Gleichzeitig soll sie Bindung zum Bürger ermöglichen. Sie soll anregen statt aufregen. Das verleiht jeder Rede Verantwortung. Sie muss vom eigenen Inhalt überzeugen, gleichzeitig aber die Bereitschaft mitbringen, sich auf andere Standpunkte einzulassen. Ein schwieriges Gleichgewicht.
"Da zeigt sich vielleicht auch grundsätzlich, dass es nicht so ganz einfach ist, mit dem immer kontroversen Charakter von demokratischer Politik auch konstruktiv umzugehen", so Hans-Jörg Siegwart, "sich mit diesem notwendigerweise kontroversen und konfliktträchtigen Charakter demokratischer Politik auch ein Stück weit anzufreunden, sozusagen. Und so einen bürgerschaftlichen Habitus zu entwickeln, der das auch dezidiert begrüßt und anerkennt, dass das ein notwendiger Bestandteil demokratischer Politik ist."
Ist das, was in Washington oder Berlin passiert ist, nun relevant für Ostbelgien? Die Frage ist zweitrangig geworden. Klar ist: Es gibt in den westlichen Demokratien Menschen, die nicht mehr an der politischen Debatte teilnehmen wollen oder sogar die politische Debattenführung nicht mehr als Modell ansehen.
Daraus resultiert eine Aufgabe - für Parlament wie für Gesellschaft. Doch am Ende ist es egal, ob innerhalb oder außerhalb eines Parlaments, ob in Washington, Berlin oder der Deutschsprachigen Gemeinschaft. Ist der Kompromiss keine Option mehr, so ist jegliche Debatte überflüssig.
Andreas Lejeune
Die Menschen haben vielfach das Vertrauen in die Politik verloren. Dieser Vertrauensverlust ist die Grundursache. Es ist an der Politik das Problem zu Lösen. Mehr direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild ist die beste Möglichkeit. Die Menschen wollen ernst genommen und gehört werden und natürlich auch mitbestimmen. Dieser komische Bürgerdialog der DG ist zu wenig. Hat höchstens Unterhaltungswert.
Wir erleben jetzt eine Systemkrise wie 1789 in Frankreich. Der Zusammenbruch des Ancien Regimes hatte viele Ursachen : Vertrauensverlust in die Politik, Überschuldung des Staates, Arroganz der Machthaber, etc. Dieses historische Beispiel sollte Warnung genug sein.
Das ist wirklich interessant, wie die politisch Agierenden die Entwicklung beschreiben. Nein, die politische Riege hat nicht bemerkt, dass man dem Bürger nicht ein "X" für ein " U" vormachen kann. Einige Bürger hinterfragen die Aktivitäten der Politik. Und das ist gut so. Ohne näher darauf einzugehen, es werden die abstrusensten Ideen durchgeboxt, zahlen tut der Bürger. Scholzen bringt es auf den Punkt, "Arroganz" und "Kommunikationsunwilligkeit".
Wenn Kompromisslosigkeit zum Zeitgeist wird, ist es dringlicher denn je, sich wieder mehr Zeit für Geist zu nehmen. Denn der Kompromiss huldigt dem Respekt vor dem anderen.
Ganz genau, wenn man kein " Ja-Sager" ist und Einiges hinterfragt, zählt man schon als "Verschwörer".....
Keine gute Entwicklung, leider!
Die Corona-Krise zeigt: Es gibt keine Polit-Verdrossenheit, es gibt nur Politiker-Verdrossenheit.
Zitat Hans-Jörg Sigwart, Professor für Politische Wissenschaft:
„Es ist also sozusagen bestimmten radikalen Gruppen gelungen, Demonstrationen für sich zu nutzen..."
Warum wird denn demostriert???
Etwa um der Regierung Applaus zu zollen?
Wird von 'radikal' geredet, dann sind es natürlich die Rechtsradikalen.
Eine Frage an den Herrn "Professor": Ist die Anti-Fa friedlich, wenn die seit Jahrzehnten am 1.Mai in Berlin bürgerkriegsähnliche Zustände verursacht? Jede PEGIDA-Demo ist maßvoller, aber dennoch wird von "Aufmarsch der Rechten" gesprochen. Ich finde, man sollte alle beide Gruppierungen kritisch hinterfragen nach deren ideologischen Triebfeder, was in den offiziellen Medien aber nur bedingt geschieht, und deshalb weichen immer mehr Bürger auf alternative Medien zurück.
Herr Professor, warum wird nicht auch von "Aufmarsch von Klimaschützern" geredet, wenn „Ende-Gelände“-Aktivisten im Kohle-Tagebau zu radikalen Methoden greifen?
Herr Professor, haben Sie Angst um den Arbeitsplatz, wenn solche Frage beantwortet werden oder auch nur zugelassen werden in Ihrem Institut?
Wenn „Kompromisslosigkeit“ à la Vivant bedeutet, eine Impfkampagne zur Eindämmung einer Pandemie mit allen lauteren und unlauteren Mitteln zu bekämpfen und sich zum politischen Handlanger von Quacksalbern zu machen, die ihr Wissen aus dubiosen, rechten und verschwörungsaffinen Internetblogs destillieren, ist es um den Parlamentarismus in unserer Gemeinschaft schlecht bestellt. Die Kompromisslosigkeit von Vivant ist nichts anderes als Populismus und politischer Opportunismus at its best.
@Ingrid Schommers:
Sie treffen es auf den Punkt.
und ja...es ist sehr, sehr, sehr bedauerlich
Wenn Politiker wie Herr Mollers sich medienwirksam als Opfer irgendwelcher Machenschaften inszenieren und zurücktreten, dann ist das schon ein bedenkliches Zeichen der Schwäche der Demokratie. Gerade für Führungskräfte zählt, dass man im Moment der Gefahr die Stellung halten muss und Stärke zeigen muss.