Mit dem Ersten Weltkrieg, der "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts", begann das "kurze 20. Jahrhundert", das mit dem Ende des Kalten Krieges ausklang. Als epochale Zäsur verstanden, verändern der Erste Weltkrieg und die Pariser Vorortverträge die politische Landkarte Europas nachhaltig. Die Folgen wirken teilweise bis heute nach – wofür Ostbelgien nur ein Beispiel von vielen ist.
Im Vergleich zu den großen territorialen und politischen Umwälzungen, welche die Versailler Friedensordnung in weiten Teilen Europas auslöste, könnte man die Abtretung der preußischen Kreise Eupen und Malmedy an Belgien als "geopolitische peanuts" bezeichnen. Die Folgen der "petite farce belge", wie die Volksabstimmung von 1920 in der belgischen Presse genannt wurde, waren aus gesamteuropäischer Perspektive kaum mehr als ein "chirurgischer Eingriff".
Dies dürfte wohl auch den Moderator der RTBF-Sendung "La plus grande Belgique" dazu inspiriert haben, den Fernsehzuschauern die Gebietsabtretung symbolträchtig durch die Zuhilfenahme einer Pinzette vor Augen zu führen, mit der er das Gebiet von Eupen-Malmedy als winziges Puzzlestück von der großen europäischen Landkarte entfernte.
Mit dem kleinen Puzzlestück im Zoom der Fernsehkamera wendet sich der Moderator mit folgenden Worten an den im Studio befindlichen Historiker Jean Stengers: "La Belgique obtient les Cantons de l’Est. Nous avons avec nous M. Stengers qui est professeur d’histoire à l’université de Bruxelles. Alors, M. Stengers, est-ce vraiment tout, uniquement que cela, uniquement Eupen-Malmédy-St.Vith que la Belgique réclamait au Traité de Versailles?"
Was in der Fernsehsendung vom 25. Oktober 1971 auf bewusst ironische Weise in Szene gesetzt wurde, war für die damaligen Menschen weder eine "farce" noch "peanuts", sondern ein fundamentaler Eingriff in ihr Leben.
In Episode drei von "100 Jahre Ostbelgien" gehen Andreas Fickers und Christoph Brüll deshalb auch weniger auf die politische Ereignisgeschichte der Zwischenkriegszeit oder des Zweiten Weltkriegs ein. Sie legen den Fokus auf die Handlungsspielräume der Menschen, die in Zeiten ökonomischer, politischer, kultureller und ideologischer Spannungen konkrete Entscheidungen über die Gestaltung ihres Lebens im ostbelgischen Zwischenraum treffen mussten.
Will man näher an die komplexe und bewegte Lebenswelt der damaligen Menschen herankommen, so die Ausgangsüberlegung, bietet sich ein biografischer Zugang an, der die damaligen Akteure nicht nur als "Opfer" oder "Spielball" äußerer Umstände begreift, sondern nach ihren konkreten Handlungsmöglichkeiten und Erwartungshorizonten fragt. Es geht den beiden Historikern darum, die Spannung zwischen historischen Zäsurerfahrungen auf der einen und biografischen Kontinuitäten auf der anderen Seite zu problematisieren.
Statt in Schwarz-Weiß-Kategorien zu denken besteht die Herausforderung der Geschichtswissenschaft gerade darin, eine Sensibilität für die unzähligen Grauzonen des Lebens zu entwickeln, ohne damit einem historischen Relativismus das Wort zu reden.
Wie wenig die Gegenüberstellung von "pro-belgisch" und "pro-deutsch" sich eignet, die Unbestimmtheit historischer Prozesse zu beschreiben, veranschaulichen Fickers und Brüll unter anderem anhand des Beispiels von Nikolaus Fickers (Jahrgang 1902), der für die belgische Bahn und nach der Annexion für die deutsche Reichsbahn arbeitete und neben seiner fachlichen Qualifikation auch die richtige Gesinnung nachweisen musste.
Bis Mitte August folgen fünf weitere Episoden der Sendereihe "100 Jahre Ostbelgien". Sendetermin ist jeweils der dritte Mittwoch im Monat. In Episode vier geht es am 15. April um Brüche und Kontinuitäten nach den beiden Weltkriegen.
Sendereihe "100 Jahre Ostbelgien" (2): Das lange 19. Jahrhundert
Christoph Brüll/Andreas Fickers