Zunächst ein Blick zurück. 2020: Sieben Parteien verhandeln fieberhaft über die Bildung einer neuen föderalen Koalition. Es sind die heutigen Vivaldi-Partner: Sozialisten, Liberale, Grüne plus CD&V. Die Kammer ist in diesem Moment schon eingesetzt und hat ihre Arbeit aufgenommen. In einer Phase ohne vollwertige Regierung ist das Parlament so frei wie sonst nur ganz selten, weil es keinen Koalitionszwang gibt.
Vor allem die linken Parteien ergreifen die Gelegenheit beim Schopf, um die seit Jahren geforderte Lockerung der Abtreibungsgesetzgebung endlich durchzusetzen. Es scheint sich auch eine Mehrheit herauszukristallisieren - sehr zum Leidwesen der CD&V. Strittig ist vor allem die Verlängerung der Frist, also des Zeitraums, in dem ein Schwangerschaftsabbruch erfolgen muss. Die flämischen Christdemokraten treten irgendwann voll auf die Bremse und stellen die möglichen künftigen Partner vor die Gretchenfrage: Entweder, die Debatte wird auf Eis gelegt. Oder die CD&V zieht sich aus den Verhandlungen zurück. "Wenn die anderen das durchziehen wollen, dann müssen sie eine Regierung ohne uns bilden", polterte seinerzeit Sammy Mahdi, damals noch Vizepräsident der CD&V.
Man machte also das, was man in solchen Fällen immer tut: Man verfrachtete das Thema in eine Warteschleife, indem man, im vorliegenden Fall, ein Expertengremium damit beauftragte, die Frage nochmal akribisch auszuleuchten und dann ein Gutachten zu erstellen.
CD&V: Frist auf 14 Wochen verlängern
Nur hat sich jede Warteschleife irgendwann auch ausgekreiselt. Besagtes Gutachten liegt jetzt nämlich vor. Die CD&V hat gleich ihre Lesart präsentiert und dabei - man könnte sagen - demonstrativ Einlenken signalisiert. Auf der Grundlage des Berichts sei man einverstanden, die Frist, in der eine Abtreibung erfolgen muss, von zwölf auf 14 Wochen zu verlängern, sagte in der VRT die CD&V-Kammerabgeordnete Els Van Hoof. 14 Wochen, aber nicht länger. Denn nach 14 Wochen müsse man bei einem Schwangerschaftsabbruch eine Methode anwenden, die für die Frau wesentlich invasiver sei. "Ohne emotional argumentieren zu wollen, aber der Fötus wird dabei zerlegt", sagt Els Van Hoof. "Hinzu kommt: Ab 14 Wochen kann man feststellen, dass ein Fötus dazu fähig ist, Schmerz zu empfinden".
"Dieses vermeintliche Einlenken ist eigentlich keins", sind sich derweil die Koalitionspartner aus dem eher linken Spektrum einig. Kopfschütteln etwa bei Melissa Depraetere von den flämischen Sozialisten Vooruit. "Wir sind ja schon auf die christdemokratische Forderung eingegangen, die ganze Problematik nochmals von Fachleuten analysieren zu lassen", sagte Depraetere in der VRT. "Deren Gutachten liegt jetzt vor. Sie kommen zu einem eindeutigen Schluss, nämlich, dass die Frist auf 18 Wochen angehoben werden muss. Nicht 14, sondern eben 18 Wochen. Und Sie", so wendet sich Depraetere an die CD&V-Kollegin, "Sie setzen sich dann doch wieder über die Meinung der Fachleute hinweg und lesen da ihre eigene Empfehlung heraus".
Nadia Naji, die Ko-Vorsitzende der flämischen Grünen, sieht das genauso. "Wir finden: 14 Wochen sind zu wenig", sagte Naji in der VRT. "Die Wissenschaft plädiert für 18 oder gar 20 Wochen. Groen steht hier auf der Seite der Wissenschaft."
Empfehlungen
"Es handelt sich um Empfehlungen, und nur um Empfehlungen", konterte Els Van Hoof für die CD&V. "Es ist Aufgabe der Politik, mit wissenschaftlichen Empfehlungen umzugehen. Ansonsten könnte man schließlich das Parlament gleich ausschließlich mit Fachleuten besetzen. Wir kommen auf der Grundlage des Gutachtens zu unserem eigenen politischen Standpunkt", sagt Van Hoof.
"Reine Willkür", erwidert Melissa Depraetere. "14 Wochen? Warum nicht 13? Oder 15? Wo kommt diese Zahl her?", fragt sich die Vooruit-Fraktionschefin. "Das Schlimmste ist, den Betroffenen hilft das nicht. Im Moment ist es so, dass Frauen nach der zwölften Schwangerschaftswoche eben in die Niederlande gehen. Wir wollen den Betroffenen auch hier eine sichere Alternative bieten."
Weder die CD&V noch die Vertreterinnen von Vooruit oder Groen haben da zunächst Kompromissbereitschaft signalisiert. Das riecht also doch schon wieder nach einem ausgewachsenen Koalitionsstreit.
Roger Pint