Eine Streikankündigung - "Ausgerechnet jetzt, mitten in der schlimmsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg!?", reagierten auch schon entgeistert einige Leitartikler in der Tagespresse...
Aufgerufen zu der Protestaktion haben die beiden großen Gewerkschaftsbünde CSC und FGTB. Beide sind unzufrieden mit dem Verlauf der Verhandlungen über ein neues Rahmentarifabkommen, das die Entwicklung der Löhne im Privatsektor für die kommenden zwei Jahre regeln soll. Nach anhaltender Blockade haben die Arbeitnehmervertretungen jetzt den Verhandlungstisch erstmal verlassen.
Beide lassen sich nicht von den Kritikern beirren. "Es gibt einen einfachen Grund, warum wir im Moment nicht zu einem guten Ergebnis gelangen können", sagte die CSC-Generalsekretärin Marie-Hélène Ska in der RTBF. Es gebe das Gesetz, das die Lohnentwicklung regelt und das unter anderem die sogenannte Lohnnorm festlegt. Nun, demnach könnten die Löhne in den nächsten zwei Jahren nur um 0,4 Prozent steigen. Nur zur Verdeutlichung: 0,4 Prozent, das seien sechs Euro brutto pro Monat für jemanden, der den Mindestlohn bezieht.
Unterschiedliche Reaktionen in der Kammer
"0,4 Prozent, das ist doch nicht mal die halbe Wahrheit", wetterte aber am Donnerstagnachmittag der Open-VLD-Abgeordnete Christian Leysen in der Kammer. Die Gewerkschaften vergessen den Index, also die automatische Anpassung der Löhne an die Entwicklung der Lebenshaltungskosten. Allein dadurch werden die Bezüge in den nächsten zwei Jahren schon um voraussichtlich 2,8 Prozent steigen. Plus 0,4 Prozent. Macht also 3,2 Prozent. Und das reiche den Gewerkschaften immer noch nicht. Das sei ein Schlag ins Gesicht für all die Unternehmen, die im Moment um ihre Zukunft bangen, sagte Christian Leysen:
Ganz andere Töne von der marxistischen PTB - naturgemäß, möchte man sagen. "Vor einem Jahr noch standen wir alle auf dem Balkon, um die Menschen zu beklatschen, die in dieser Krise auf dem Posten geblieben sind", sagte PTB-Chef Peter Mertens. "Ein Jahr später bitten diese Corona-Helden um mehr Geld - und dann wird diese Forderung als "weltfremd" abgetan".
Premierminister Alexander De Croo gab sich in seiner Antwort diplomatisch. "Das vergangenen Jahr war ein besonders schwieriges, das streitet niemand ab. Genau so wenig, dass viele Arbeitnehmer viel und unter schwierigen Bedingungen arbeiten mussten. Auf der anderen Seite erleben wir aber leider düstere Zeiten, sehr viele Unternehmen bangen um ihre Zukunft."
Gesetz flexibler ausgestalten
Das leugnen auch die Gewerkschaften nicht. "Klar! Es gibt Unternehmen, für die 0,4 Prozent schon zu viel sind", sagte FGTB-Präsident Thierry Bodson in der RTBF. "Es gibt aber auch die anderen, die gut durch diese Krise gekommen sind, die vielleicht sogar besser dastehen als zuvor. Für diese Branchen müsse es doch möglich sein, bessere Abschlüsse verhandeln zu können, was das Gesetz allerdings nicht zulasse. Deswegen fordere man denn auch, dass das Gesetz eben flexibler ausgestaltet werde. Eben, um dafür zu sorgen, dass man in den Betrieben, die gut dastehen, die Lohnnorm von 0,4 Prozent überschreiten könne.
Nur: Genau das will die Regierung den Gewerkschaften bereits vorgeschlagen haben. Premier De Croo sagte nämlich exakt das gleiche in der Kammer. Der Teufel liegt da wohl im Detail. Aber, das hört sich dann doch nicht so an, als wären die Hindernisse unüberbrückbar.
Auch der PS-Vizepremier und Arbeitsminister Pierre-Yves Dermagne reagierte demonstrativ zurückhaltend. Gerade seine Partei steht im Augenblick besonders unter Beobachtung, weil die PS über einen starken Gewerkschaftsflügel verfügt. Er wolle hier nicht Position beziehen, könne aber nur sagen, dass ein Streik immer ein Scheitern ist. "Aber, wissen Sie, die Protestaktion soll ja erst am 29. März stattfinden. Das gibt uns also noch ein bisschen Zeit", sagte Dermagne. Die werde man nutzen, um zu versuchen, die Verhandlungen wieder flottzukriegen.
Roger Pint