"Dieses Wochenende steht Ihre Kaufkraft im Mittelpunkt", so der Aufmacher von L'Avenir zum Konklave der Regierung zur Steuerreform. "Zusätzliche Mehrwertsteuereinkünfte, aber auch mehr steuerfrei verdienen – dieser Plan für einen Taxshift liegt dieses Wochenende auf dem Tisch der Regierung", titelt Het Laatste Nieuws im Innenteil. "Das Minenfeld der Steuerreform", schreibt De Tijd. "Die Steuerreform ist seit 60 Jahren ein Notfall", erinnert Le Soir auf Seite eins.
Jetzt liegt die Reform des Besteuerungssystems also wirklich auf dem Verhandlungstisch, dieses Kernprojekt der Vivaldi-Regierung, kommentiert De Standaard. Weißer Rauch wird von niemandem schnell erwartet, für die PS reicht es sogar, wenn man sich bis zum 21. Juli einigt. Aber indem er ein Konklave angesetzt hat, hat Premierminister Alexander De Croo den Einsatz erhöht - vor allem auch für sich selbst. Denn wenn die Regierung noch etwas unternehmen will gegen die allgemeine Politik-Enttäuschung, dann muss das jetzt passieren, es ist eine Reform mit dem Messer an der Kehle, meint De Standaard.
Vorhersehbare Kritik
Falls in den nächsten Tagen tatsächlich eine Steuerreform kommt, dann wird sie nur ein müder Abklatsch der ursprünglichen Langzeitpläne sein, ist De Tijd in ihrem Leitartikel überzeugt: Neun Monate sind mittlerweile vergangen, seitdem Finanzminister Vincent Van Peteghem seinen Entwurf für die Reform vorgestellt hat. Und in dieser Zeit ist aus dem langfristigen Plan, das Steuersystem einfacher und zukunftsbeständiger zu machen, eine viel begrenztere Übung geworden. Eine Übung, in der einige sehr kontraproduktive Maßnahmen die positiven Effekte einer Verringerung der Steuerlast auf Arbeit zunichtemachen. Abgesehen davon stimmt schon die Ausgangslage nicht, das Preisschild für die Reform nicht, denn der Plan ist nicht finanziert. Die Rechnung wird also wieder bei der nächsten Regierung landen, wettert De Tijd.
Die Klausurtagung der Föderalregierung hat kaum begonnen, da kann man schon die größten Kritikpunkte vorhersagen, schreibt De Morgen: Es wird wieder zu wenig sein, zu minimal, zu begrenzt. Aber diese Kritik ist nicht nur sehr vorhersehbar, sondern auch zumindest ein bisschen faul. Die belgische Demokratie hat nun einmal eine Tradition der langsamen, schrittweisen Reformen. Das kann manchmal zu Recht frustrierend sein. Aber andererseits hat uns das auch einen robusten Wohlfahrtsstaat gebracht mit einer im Schnitt recht wohlhabenden Bevölkerung. Außerdem schwingt bei der Kritik auch oft eine gehörige Portion Scheinheiligkeit mit. Denn oft sind die Meinungsmacher, Wirtschaftsexperten und Interessenvertretungen, die nach großen Reformen rufen, die ersten, die auf die Bremse treten, wenn ihnen dadurch Nachteile drohen, erinnert De Morgen.
Was tun gegen den Friedhof im Mittelmeer?
Het Laatste Nieuws greift das jüngste, sehr tödliche Migrantendrama im Mittelmeer auf: Das war kein Unglück, sondern eine politische Entscheidung. Viele europäische Länder haben ihre Asylpolitik verschärft, ganz vorne mit dabei war Griechenland. Theoretisch sollen Migranten so davon abgehalten werden, die gefährliche Überfahrt zu wagen, tatsächlich scheint aber das Gegenteil der Fall zu sein: Dieses Jahr sind schon fast doppelt so viele Flüchtlinge per Boot in der EU gelandet wie im Jahr davor. Und diese Odyssee wird auch immer tödlicher: 2022 sind dabei sicher 3.800 Menschen gestorben. Zum Vergleich: Das sind mehr als bei den Terroranschlägen vom 11. September. Die Antwort kann aber auch nicht lauten, den Flüchtlingsströmen Tür und Tor zu öffnen, schon jetzt werden die Zustände in Städten wie etwa Paris unhaltbar. Es ist ein hochkomplexes Thema und wir müssen eine gemeinsame Migrations- und Flüchtlingspolitik finden. Aber bis wir die notwendigen Antworten haben, können wir nicht tatenlos zuschauen, wie der Friedhof im Mittelmeer immer größer wird, kritisiert Het Laatste Nieuws.
Wir sollten aufhören, die Migration ausschließlich als Problem zu betrachten, empfiehlt L'Echo. Denn auch wenn es den Unheilspropheten nicht passt, so ist doch erwiesen, dass Migranten einen positiven Beitrag zur Wirtschaft ihrer Zielländer leisten können. Migration kann nicht nur zur Schaffung von Wohlstand und Jobs beitragen, sondern auch helfen, unseren Mangel an Arbeitskräften zu bekämpfen. Allerdings müssten wir dazu auch die Ärmel hochkrempeln, denn gerade in Belgien läuft die Integration von Migranten schlecht, ist die Arbeitslosigkeit bei der ersten und zweiten Generation im Vergleich zum EU-Durchschnitt sehr hoch. Natürlich wäre gezielte Arbeitsmigration kein Allheilmittel angesichts der vielen Menschen, die aus ihren Heimatländern in eine bessere Zukunft aufbrechen wollen. Aber sie könnte dazu beitragen, sichere Migrationswege zu schaffen und den Druck zu verringern, glaubt L'Echo.
Die Hauptsache sind spektakuläre Bilder
Der Tod des Schweizer Radprofis Gino Mäder bei der Tour de Suisse beschäftigt die Leitartikler ebenfalls: Der Tod Mäders ist schockierend und tragisch, so La Dernière Heure. Aber er bestätigt auch einmal mehr, das Radfahren gefährlich ist. Glücklicherweise ist es im Lauf der Jahre immer sicherer geworden, weil Verbesserungen wie zum Beispiel die Fahrradhelm-Pflicht eingeführt worden sind. Aber leider hat die Verkehrsinfrastruktur da nicht Schritt gehalten - sei es, weil gar keine eigenen Wege für Radfahrer vorgesehen sind, sei es, weil die vorhandene Infrastruktur nicht gepflegt, repariert und instandgesetzt wird. Das bringt die ohnehin gefährdeteren Verkehrsteilnehmer zusätzlich in Gefahr, unterstreicht La Dernière Heure.
L'Avenir greift die Veranstalter der Radrennen scharf an: Jahr um Jahr muss es spektakulärer werden. Die Folge ist, dass die Leben der Teilnehmer in immer größere Gefahr geraten. Das geht so weit, dass man manchmal den Eindruck bekommt, dass die Sicherheit der Radler vollkommen in den Hintergrund rückt. Das Schlimmste dabei ist, dass wir uns vor den Bildschirmen oder in den Zuschauerrängen oft gar nicht klarmachen, welche Risiken die Radsportler eingehen. Es ist und wird auch immer ein gefährlicher Sport bleiben, ein Sturz bei egal welcher Geschwindigkeit kann sehr schwerwiegende Folgen haben. Aber das reicht offenbar nicht, um die Veranstalter zum Umdenken zu bewegen, die Strecken müssen immer gefährlicher werden, um noch spektakulärere Bilder fürs Fernsehen zu liefern, giftet L'Avenir.
Boris Schmidt