"Brüssel: Besetztes Gebäude in großem Chaos geräumt", so der Titel einer kurzen Meldung im Innenteil des GrenzEchos. "Ein Toter im besetzten Haus in der Rue des Palais", melden Le Soir und L'Avenir auf Seite sechs. "Bestimmte Bewohner zurück auf der Straße", greift La Libre Belgique die Räumung noch weiter hinten auf. In den flämischen Zeitungen ist es hingegen das absolute Topthema: "163 Asylsuchende in Bus gesetzt - vom besetzten Haus ins Hotel", so etwa der Aufmacher bei Het Laatste Nieuws. "Brüssel setzt 163 Migranten aus besetztem Haus in flämischem Hotel ab", so Gazet van Antwerpen. "Asylsuchende ohne Absprachen nach Flandern umgezogen - "Das Problem ist einfach verlegt worden"", liest man bei Het Nieuwsblad.
"Wie tief kann die Asylpolitik eigentlich noch sinken in diesem Land?", fragt sich De Morgen in seinem Leitartikel. Nicht nur dass nationale und lokale Verantwortliche monatelang einfach zugeschaut haben, wie die Zustände in dem vollkommen überfüllten besetzten Haus in der Brüsseler Stadtgemeinde Schaerbeek immer schlimmer wurden. Selbst die Räumung verlief unordentlich und unkoordiniert, sogar eine Leiche wurde dabei entdeckt. Außerdem scheint der PS-geführten Brüsseler Regionalregierung wirklich nichts Besseres eingefallen zu sein, als Dutzende Asylsuchende einfach in einem Hotel in einer Randgemeinde zu kasernieren - ohne die lokalen Behörden einzuweihen. So zerstört man selbst den letzten Rest eventuell noch vorhandener Unterstützung in der Bevölkerung. Selbst die zuständige föderale Asylstaatssekretärin Nicole de Moor reagiert fassungslos - aber die knallharte Wahrheit ist, dass sie zugelassen hat, dass ihr die Asylpolitik völlig entglitten ist. "Dadurch haben die Föderalregierung und die Asylstaatssekretärin diese anarchischen Zustände maßgeblich mitgeschaffen", klagt De Morgen an.
Konzertierungsausschuss jetzt!
"Gewähren lassen - das war offenbar die Lösung für alle Verantwortlichen", wettert Het Nieuwsblad: Das besetzte Haus gehört der Region Brüssel-Hauptstadt, aber drei Monate lang hat niemand von der Region einen Finger gerührt, während in dem Gebäude Brände gelegt, Drogen gedealt und Messerangriffe verübt wurden. Die Föderalregierung ihrerseits wurstelt seit mehr als einem Jahr mit der Unterbringungskrise für Flüchtlinge, 7.000 Mal ist Fedasil mittlerweile deswegen verurteilt worden, die Asylstaatssekretärin weigert sich, die Strafen zu bezahlen.
Und während die flämische Regierung jetzt wegen 163 Menschen in einem Hotel auf die Barrikaden geht, ist sie weit weniger enthusiastisch, wenn es um die Schaffung zusätzlicher Plätze geht, damit in Brüssel niemand auf der Straße schlafen muss. Es ist allzu einfach, sich immer hinter den angeblichen Zuständigkeiten und Verantwortungen der anderen zu verstecken. "Dann ruft eben endlich den Konzertierungsausschuss zusammen, damit Lösungen gefunden werden können", fordert Het Nieuwsblad.
NIMBY
"Grob zusammengefasst läuft es auf Folgendes hinaus: Wir buchen für zwei Wochen ein Hotel in Flandern und danach sehen wir weiter", giftet Het Laatste Nieuws. Zumindest, was die angeht, die Glück hatten. Denn andere waren darauf angewiesen, dass ihnen Anwohner vor dem Brüsseler Asylzentrum "Petit-Château" mit Decken und anderem halfen. Und wieder andere sind einfach in der Nacht verschwunden. Springt man so mit den Schwachen in unserer Gesellschaft um? Wir kehren sie einfach unter den Teppich - aus den Augen, aus dem Sinn! "Das "Not-in-my-backyard"-(NIMBY)-Syndrom, also, dass man etwas nicht in seinem eigenen Hinterhof haben will, trifft sowohl auf die linken wie auf die rechten Parteien zu", stellt Het Laatste Nieuws fest.
Für De Tijd steht die Räumung des Hauses in der Rue des Palais in Klein für das, was in Groß mit der Asylpolitik schiefläuft: Missverstandene Menschlichkeit, die letztlich niemandem hilft. Es ist ein Verlust der elementarsten Kontrolle, ein Mangel an Absprachen und ein Weiterschieben der Probleme. In Klein passiert das auch am Asylzentrum "Petit-Château" auf der Grenze zwischen Brüssel-Stadt und der Stadtgemeinde Molenbeek, wo man sieht, dass es noch nicht einmal eine Frage der Ideologie sein muss - beide haben einen PS-Bürgermeister. Einfach wird eine andere Flüchtlingspolitik natürlich sicher nicht. Aber was wir gerade haben, ist wirklich weit jenseits von Gut und Böse. "Solange der Staat den Eindruck erweckt, dass er keine Kontrolle über seine eigene Politik hat, ist es unmöglich, dass sich demokratische Unterstützung für eine Migrationspolitik, die uns nicht beschämen muss, entwickeln wird", meint De Tijd.
Europas Herumtrödeln und Panikfußball
"Die Rue des Palais beweist vor allem, wie groß die Asylkrise mittlerweile ist", kommentiert Gazet van Antwerpen: Immer mehr Asylbewerber melden sich an, es gibt nicht genug Plätze, die Anerkennung läuft zu langsam, wer abgelehnt wird, bleibt trotzdem da, die Rückführung funktioniert nicht und Asylbewerber, die in einem europäischen Land abgelehnt werden, reichen einfach in einem anderen einen neuen Antrag ein. Die Niederlande, Frankreich, Deutschland, Italien, Griechenland - auch sie schaffen es nicht mehr, der Flüchtlingsströme Herr zu werden. Die Folge sind auch dort menschenunwürdige Zustände und große Unruhe in der Bevölkerung. Und dennoch schaffen es die Länder Europas nicht, sich auf eine wirksame gemeinsame Politik zu einigen.
Dieses Herumtrödeln Europas und der Panikfußball der Mitgliedsstaaten werden garantiert zu noch stärkeren extremen Parteien führen, die nur darauf warten, noch mehr Kapital zu schlagen aus dem Chaos. "Und zu noch mehr Asylsuchenden. Und zu noch mehr schändlichen "Rues des Palais"", warnt Gazet van Antwerpen.
Boris Schmidt