"Ein Belgier in Gelb", jubelt La Dernière Heure. "Lampaert rast ins Gelbe Trikot", titelt das GrenzEcho. "Yves Lampaert verblüfft und packt Gelb, Wout van Aert enttäuscht Zweiter", fasst Gazet van Antwerpen auf Seite eins zusammen.
Während fast alle Titelseiten enthusiastisch den Start der Tour de France und den belgischen Doppelsieg beim Auftaktzeitfahren feiern, befassen sich die Leitartikel mit ganz anderen Themen. Wobei Het Nieuwsblad zumindest bei den Drahteseln bleibt: Ecolo-Mobilitätsminister Georges Gilkinet hat ein zentrales Register ins Leben gerufen, um gestohlene Fahrräder leichter wiederzufinden. Außerdem will er Fahrraddiebstahl zu einer Priorität für Polizei und Justiz machen. Offiziell werden jeden Tag in Belgien etwa 70 Fahrräder gestohlen, Experten gehen von mindestens doppelt so vielen aus. Die Chance, sie jemals wiederzufinden, ist verschwindend klein. Dieben droht im schlimmsten Fall eine kleine Geldstrafe. Eine De-Facto-Straflosigkeit, die angesichts des leicht verdienten Geldes Nachahmer und Wiederholungstäter anspornt.
Die Behörden verdrehen derweil nur die Augen, wenn man einen Diebstahl anzeigen will. Es gebe doch wirklich ernstere Verbrechen, um die man sich kümmern müsse. Diese Argumentation lässt aber vollkommen außer Acht, dass es hier um viel mehr geht als um den Verlust von Eigentum und den finanziellen Schaden. Immer öfter werden Menschen ihres einzigen Fortbewegungsmittels und damit eines Grundrechts beraubt. Der Diebstahl führt zu Frustration und einem Gefühl der Unsicherheit und untergräbt das Vertrauen in Polizei und Justiz. So lange sich nicht die Erkenntnis durchsetzt, dass ein Fahrrad viel mehr ist als ein Stück Altmetall, so lange wird Mobilitätsminister Gilkinet wohl leider ein Rufer in der Wüste bleiben, befürchtet Het Nieuwsblad.
Zeit für fruchtbare Diskussionen
In Flandern und mittlerweile auch darüber hinaus sorgt seit einigen Tagen der Fall eines mittlerweile pensionierten Gynäkologen aus dem westflämischen Torhout für viel Wirbel. Der Mann hatte bei der künstlichen Befruchtung von Frauen sein eigenes Sperma verwendet. Herausgekommen ist das Ganze erst durch DNA-Abgleiche der so gezeugten Kinder. Der Arzt streitet die Vorwürfe nicht nur nicht ab, sondern versucht auch noch, sein Vorgehen zu rechtfertigen.
Gott ist ein Fruchtbarkeitsarzt. Oder zumindest scheinen sie selbst das zu denken, wettert Het Laatste Nieuws. Der Fall in Westflandern ist ja beileibe kein Einzelfall. In mehr als 50 Fällen wird in den Vereinigten Staaten ermittelt, in den Niederlanden ist von mindestens fünf Ärzten bekannt, dass sie bei künstlichen Befruchtungen auf ihr eigenes Erbgut zurückgegriffen haben. Der berüchtigtste von ihnen ist Jan Karbaat, der der biologische Vater von mindestens 81 Kindern sein soll. Der Amerikaner Donald Cline soll es sogar auf 94 gebracht haben. Alle diese Ärzte waren in den 1970er und 1980er Jahren aktiv, in der Pionierzeit der künstlichen Befruchtung, als es noch keine gesetzlichen Rahmen für die Prozeduren gab. Das macht ihre Bestrafung sehr schwierig.
Etwas anderes haben alle diese Ärzte auch noch gemein: Sie weigern sich, ihr Verhalten als problematisch zu sehen, so wie ihr Kollege aus Torhout also, der ja auch "nur Menschen helfen" wollte. Selbst wenn die Mediziner davon wirklich überzeugt sein sollten, so hat die Vereinigung der sogenannten Spenderkinder noch eine andere Vermutung: Auch das Ego der Fruchtbarkeitsärzte habe eine Rolle gespielt, der Wunsch, das eigene Erbgut weit zu verbreiten. Zu denken gibt aber auch die hiesige Ärztekammer und deren Verhalten gegenüber den Spenderkindern. Denn als ein Betroffener sie wegen seines Verdachtes gegen den Torhouter Arzt kontaktierte, erhielt er nur die trockene Antwort, dass das nicht in die deontologische Zuständigkeit der Ärztekammer falle. Es ist wohl wirklich höchste Zeit für einige, man verzeihe den Ausdruck, fruchtbare Diskussionen, giftet Het Laatste Nieuws.
Mit einer anderen unappetitlichen Geschichte befasst sich La Dernière Heure, nämlich mit dem Salmonellenfall in der "größten Schokoladenfabrik der Welt", bei Barry Callebaut: Das ist nach Ferrero in Arlon der zweite große Fall in der industriellen Schokoladenherstellung in Belgien innerhalb von drei Monaten - und wirft doch Fragen auf. Vor allem bezüglich der Art und Weise, in der die Produktion offenbar bis an ihre Grenzen getrieben wird und bezüglich des Strebens nach Profit der Hersteller. Der einzige Lichtblick ist, dass die Maschinen bei Callebaut wohl noch rechtzeitig gestoppt worden sind, bevor die Salmonellen zu den Kunden gelangen konnten. Ohne jetzt in einen übertriebenen und sinnlosen Hygienewahn verfallen zu wollen: Aber hier geht es um Produkte, die Sie und wir, unsere Kinder, unsere Eltern täglich verzehren. Krank zu werden oder gar zu sterben wegen eines Ostereis oder einer Praline, das ist definitiv eine Sorge, die wir ganz sicher nicht brauchen können, empört sich La Dernière Heure.
Noch ist es nicht zu spät
L'Echo ist derweil am Zählen: 99 Wochen. 694 Tage, um genau zu sein. So viel Zeit hat - zumindest theoretisch - die Vivaldi-Koalition noch bis zu den nächsten Wahlen. Falls sie nicht vorher doch noch stürzt also genug Zeit für die Föderalregierung, um große Projekte umzusetzen. Aber um das hinzubekommen, müsste sich an der Dynamik innerhalb der Equipe von Premierminister Alexander De Croo etwas grundlegend ändern. Ehrgeiz anstatt immer nur der kleinste gemeinsame Nenner oder das Beharren auf die ohnehin oft sehr diffuse Regierungsvereinbarung - dann könnten die sieben Parteien bis 2024 den Staat tatsächlich noch auf einen guten Kurs bringen. Natürlich sind die Herausforderungen und die Unsicherheiten immens. Aber genau das könnte die Politik doch dazu anspornen, endlich über sich selbst hinauszuwachsen und strukturell etwas zu verändern. Noch ist es nicht zu spät für die Vivaldi, ihre Spuren in der politischen Geschichte des Landes zu hinterlassen. Hoffen wir also, dass die Koalitionsparteien die verbleibenden 694 Tage noch nutzen werden…, so das Stoßgebet von L'Echo.
Nach dem Sommer sehen wir weiter…
Le Soir kommt auf das Ende des Schuljahres und damit für viele auch den Beginn ihrer Auszeit von der Arbeit zurück: Wir gehen mit einem unbestimmten Gefühl der Unsicherheit in diese Pause. Krieg, Energieknappheit, Kaufkraft, Wirtschaftskrise, Börsenkrach, Naturkatastrophen, Klimawandel, beunruhigende Nachrichten aus den USA, der Vormarsch der Rechtsextremen in Frankreich und in Flandern - all diese Sorgen führen dazu, dass wir uns wie am Rand unzähliger Abgründe fühlen. Dennoch gilt: So lange wir kämpfen, solidarisch bleiben, den Mut nicht aufgeben - so lange muss es nicht zum Schlimmsten kommen. Aber um das zu schaffen, brauchen wir Energie. Und die sollten wir in den kommenden Ferienwochen versuchen zu tanken - indem wir uns auch vergnügen und im Augenblick leben, fordert Le Soir.
Gazet van Antwerpen schlägt in die gleiche Kerbe: Wir haben viele Illusionen und Hoffnungen einbüßen müssen in letzter Zeit. Niemand weiß, wie sich der Krieg entwickeln wird. Niemand weiß, wie es in der Energiekrise weitergehen wird. Niemand weiß, ob wir Ende des Jahres noch eine Regierung haben werden. Wir sollten uns also besser auf einen schwierigen Herbst vorbereiten. Aber jetzt ist erst einmal Sommer! Lasst ihn uns zu einem ruhigen, angenehmen und vor allem sorglosen Sommer machen! Danach sehen wir dann weiter…, empfiehlt Gazet van Antwerpen.
Boris Schmidt