"Russische Rakete trifft Einkaufszentrum in der Ukraine und tötet zahlreiche Zivilisten", titelt La Libre Belgique. "Putin lässt Rakete auf Einkaufszentrum mit 1.000 Ukrainern fallen", liest man bei Het Laatste Nieuws. "Die Barbarei", so die entsetzte Überschrift bei Le Soir.
Während die Titelseiten prominent einen der jüngsten mörderischen Angriffe Putins auf die ukrainische Zivilbevölkerung aufgreifen, befassen sich die Leitartikel mit anderen Themen, zum Beispiel weiterhin mit der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten, das landesweite verfassungsmäßige Recht auf Abtreibung zu kippen.
Egal, was man persönlich denken mag, man kann nicht anders, als zu beklagen, was sich in den Vereinigten Staaten nach der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs abspielt, schreibt La Libre Belgique. Das Gericht macht den Graben zwischen den zwei Amerikas nur noch tiefer, diesen Amerikas, die sich gegenseitig beschimpfen, verurteilen und nicht mehr versuchen, einander zu verstehen. Derweil kümmert sich niemand um die eigentlichen Fragen rund um Abtreibungen. Was ist mit den sozialen Ungleichheiten, unter denen besonders Frauen und junge Mütter leiden? Wer wacht darüber, welche Unterstützung sie bekommen, egal ob sie sich nun für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden? Die Frauen sind wirklich das erste Opfer des Dramas, das sich in Washington abspielt. Daraus sollten wir Lehren für Belgien ziehen, wir sollten darauf achten, diese Debatten, Spaltungen und Konflikte nicht zu importieren, warnt La Libre Belgique.
Eine sehr aufschlussreiche Episode
La Dernière Heure kommentiert die in diesem Zusammenhang vom MR-Bürgermeister von Wezembeek-Oppem bei Brüssel ausgelöste Kontroverse: Der hatte die Entscheidung des Obersten US-Gerichts öffentlich begrüßt. Das hat ihm scharfe Verurteilungen von einem Großteil der frankophonen Parteien des Landes eingebracht, inklusive seiner eigenen, der frankophonen Liberalen MR. Diese Episode ist sehr aufschlussreich, findet die Zeitung, denn sie zeigt einmal mehr, wie Religion noch immer eine Rolle in der belgischen Politik spielt. Der Aufschrei hierzulande sowohl von Links als auch Rechts angesichts der Entwicklungen in den USA und die Forderung, das Recht auf Abtreibung in die belgische Verfassung zu schreiben, ist in diesem Kontext positiv zu bewerten. Aber das reicht nicht: Die Parteien müssen sich auch fest und kompromisslos gegen jegliche Einmischung der Religion in die Politik positionieren. Denn die gibt es – aus allen Richtungen – noch immer viel zu oft. Und bei der Gelegenheit sollten wir uns auch darüber empören, dass Abtreibung unter bestimmten Umständen in Belgien noch immer strafbar ist, erinnert La Dernière Heure.
Christdemokratische Herausforderungen
Diverse flämische Zeitungen befassen sich heute vor allem mit den neuen Personalien der flämischen Christdemokraten CD&V: Seit Samstag ist der bisherige föderale Asylstaatssekretär Sammy Mahdi ja auch offiziell ihr neuer Vorsitzender. Und gestern Abend hat der Parteirat dessen bisherige Kabinettschefin Nicole de Moor zur neuen Staatssekretärin für Asyl und Migration auserkoren. Het Laatste Nieuws blickt zunächst auf das Verhalten Mahdis der letzten Tage. Der frischgebackene Vorsitzende der CD&V verlor keine Zeit, um nach links und rechts auszuteilen, besonders gegen die Koalitionspartner sowohl auf föderaler Ebene als auch auf regionaler Ebene. Ausgerechnet über den rechtsextremen Vlaams Belang, der für die CD&V wählertechnisch eine besondere Gefahr darstellt, verlor Mahdi aber kein einziges Wort. Und viele der politischen Projekte, die sich Mahdi als Ziele für seine neue Art des Straßenkampfes ausgesucht hat, gehen ausgerechnet auf CD&V-Minister zurück, wundert sich Het Laatste Nieuws.
Die CD&V hat nichts zu verlieren, unterstreicht Gazet van Antwerpen, sie steht vor unzähligen Herausforderungen. Die größte davon ist, die CD&V auf einen klaren Kurs zu setzen – und sie auch darauf zu halten. Mahdi steht hier vor einer schwierigen Aufgabe, aber er ist das Beste, was der CD&V passieren konnte: ein junger, intelligenter Politiker mit Migrationshintergrund und enormem Ehrgeiz, die Partei wieder auf die Beine zu bringen, meint Gazet van Antwerpen.
Auf die neue Staatssekretärin für Asyl und Migration wartet eine wichtige, aber besonders undankbare Aufgabe, hält De Tijd fest: Wahltaktisch gibt es hier kaum etwas zu gewinnen. Andererseits ist die Chance, hier Fehler zu machen, sehr groß. Und dann ist der Kampf, den Nicole de Moor führen soll, auch noch einer, den sie quasi mit gebundenen Händen führen muss. Geopolitisch steht alles gegen sie: die langen Grenzen Europas, die Konfliktherde, die den Kontinent umringen, der Ukrainekrieg, der das noch verstärkt, und obendrauf kommt noch die drohende Hungerkrise in Afrika, die die Fluchtbewegungen weiter ankurbeln wird. Dann fehlt ihr noch ein weiteres elementares Schlussstück für ihre Asyl- und Migrationspolitik: verlässliche Abkommen mit den entsprechenden Ländern, um abgelehnte Flüchtlinge zurückschicken zu können. Belgiens Migrationspolitik liegt also größtenteils in den Händen anderer, so resigniert De Tijd.
Kann der Papiertiger die Seidenstraße aufhalten?
Das GrenzEcho kommt in seinem Leitartikel auf den G7-Gipfel im deutschen Elmau zurück und pickt sich einen spezifischen Unterpunkt heraus: Mit einem 600 Milliarden schweren Investitionspaket will die G7 dem wachsenden Einfluss Chinas in der Welt etwas entgegensetzen. Im Visier ist eindeutig Chinas gemeinhin als "Neue Seidenstraße" bezeichnetes, sehr breit angelegtes Vorhaben. Laut Schätzungen hat das Land inzwischen schon 600 bis 800 Milliarden Dollar in diese Operation gesteckt. Pikanterweise flossen davon rund 25 Milliarden nach Europa, unter anderem nach Griechenland, Ungarn und sogar nach Belgien, wo in Lüttich eine europäische Basis der Seidenstraße entsteht. Der Versuch der G7-Staaten, in diesem Zusammenhang Indien, Südafrika, Indonesien, Argentinien und den Senegal auf ihre Seite zu ziehen, hatte bisher eher durchwachsenen Erfolg. Südafrika etwa beklagte, dass man sich ja bisher auch nicht für das Land interessiert hatte. Will man China Konkurrenz machen, müssen also schleunigst Taten folgen. Während der chinesische Tiger längst Beute macht, sind die westlichen Milliarden noch Papiertiger, kritisiert das GrenzEcho.
Boris Schmidt