"1. Mai: Wie ungleich ist das Vermögen der Belgier verteilt?", fragt De Morgen auf Seite eins. "Die untere Mittelschicht ist der große Verlierer der Krise", heißt es im Aufmacher von De Standaard. "Es geht darum, würdig zu leben", zitiert L'Avenir den Co-Vorsitzenden von Ecolo, Jean-Marc Nollet, auf ihrer Titelseite.
Themen rund um den 1. Mai, die soziale Frage und die aktuelle Krise bestimmen nicht nur die Titelseiten, sondern auch die Leitartikel.
De Tijd weiß: Die Kaufkraft wird ein zentrales Thema bei den Reden zum 1. Mai sein. Das ist völlig verständlich. Denn aktuell sieht es um die Kaufkraft schlecht aus. Die hohe Inflation und die Aussicht darauf, dass sie sich einnisten wird bei uns, sind der Grund dafür. Ein gutes Rezept dagegen ist noch nicht gefunden. Die Vorschläge, eine zusätzliche Steuer für Reiche oder Unternehmen mit Gewinnen einzuführen, lösen das Problem nicht. Vielmehr muss eine Lösung gefunden werden, die von allen Teilen der Gesellschaft getragen wird, meint De Tijd.
De Standaard beobachtet: Es kommt gerade knüppeldick. Die Preise steigen, die Bevölkerung verarmt und die Staatskassen sind leer. Alles Folgen von Versäumnissen. In den Jahren, in denen es uns besser ging als heute, hat keiner etwas dafür getan, um ein Szenario wie jetzt zu verhindern. Zu hohe Schulden, zu wenig Wachstum, zu wenig Menschen mit Arbeit, zu wenig Dynamik, zu viel Streit. Das alles war uns durchaus bewusst. Gemacht hat keiner etwas dagegen. Jetzt fällt uns das auf die Füße, ärgert sich De Standaard.
Wie in den 1970er Jahren?
Gazet van Antwerpen erinnert: Die aktuelle Krise ist zu vergleichen mit der großen Krise in den 1970er Jahren. Auch damals galoppierte die Inflation, die Preise für Benzin waren schwindelerregend hoch. Doch irgendwie scheint es im Rückblick, dass die Gesellschaft damals gelassener mit diesen Sorgen umgegangen ist. Das ist verständlich, denn damals gab es auch keinen Krieg, der die Weltordnung droht zu verändern. Die Unsicherheit in Hinsicht auf die Zukunft ist jetzt komplett, bedauert Gazet van Antwerpen.
La Dernière Heure hält fest: Es ist falsch, den Krieg in der Ukraine für die Krise in unserem Portemonnaie verantwortlich zu machen. Denn die jüngsten Zahlen der EU-Statistik zeigen deutlich: Zwischen Februar 2021 und Februar dieses Jahres, also noch vor Kriegsbeginn, sind nirgends anders in Europa die Preise für Strom so stark gestiegen wie in Belgien. Nur kurz zum Vergleich: In Brüssel stiegen die Preise um 99 Prozent, in Paris um 13 Prozent. Also muss etwas falsch laufen in Belgien. Und jeder weiß, was das ist. Unser Steuersystem auch in Bezug auf die Energie muss dringend reformiert werden. Alles muss entschlackt werden, fordert La Dernière Heure.
Die Linke irrt sich
La Libre Belgique behauptet: Die Linke irrt sich, wenn sie jetzt pünktlich zum 1. Mai erneut die Diskussion um eine Vermögenssteuer lostritt. Denn es wäre viel wichtiger, das Steuersystem gerechter, einfacher und logischer zu gestalten. Zurzeit ist unser Steuersystem die Quintessenz von allem, was falsch laufen kann in einem solchen System. Es gibt zu viele Schlupflöcher, zu viele Ausnahmen, alles ist zu kompliziert. Und es wird viel zu früh zu hoch besteuert. Dagegen müsste sich die Wut der Sozialisten richten. Von einer Reform des Steuersystems würden dann auch alle profitieren. Und nicht nur die Wähler der Linken, unterstreicht La Libre Belgique.
L'Echo gibt zu bedenken: Das beste Mittel gegen Armut ist Arbeit, die sich lohnt. Deshalb müssen Steuern weg von Löhnen und Gehältern, müssen Arbeitnehmer sinnvoll vor Ausbeutung geschützt werden, Arbeit muss Arbeitnehmern und Arbeitgebern wieder Spaß machen. Feiern wir die Arbeit am Tag der Arbeit, wünscht sich L'Echo.
Ein Student, eine Nummer
Le Soir berichtet bereits in seinem Aufmacher, dass im frankophonen Hochschulwesen der Zugang zum Medizinstudium neugestaltet wird. Künftig wird vor Beginn des Studiums eine Zulassungsprüfung stattfinden. Dazu kommentiert Le Soir: Dieser am Freitag gefundene Kompromiss zwischen föderaler Ebene und der Französischen Gemeinschaft ist nur zu begrüßen.
Das System der Zulassungsprüfung wird in Flandern schon längst so gehandhabt. Jetzt ist das System gleich im ganzen Land. Es wird auch den Studenten mehr Sicherheit bieten. Jeder, der die Zulassungsprüfung besteht, wird eine Inami-Nummer bekommen, also die Garantie, dass er nach dem Studium auch tatsächlich als Arzt arbeiten kann, freut sich Le Soir.
Bitte nicht so, wie in Amerika!
Het Nieuwsblad beschäftigt sich mit der Verurteilung des belgischen Künstlers Jan Fabre. Ein Gericht in Antwerpen hatte ihn am Freitag zu 18 Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt wegen Gewalt, Mobbing und sexueller Belästigung. Het Nieuwsblad schreibt: Die Partei Vooruit hat jetzt gefordert, dass im flämischen Parlament das Kunstwerk von Fabre, das dort hängt, nicht länger gezeigt werden darf. Zum Glück haben andere Museen und Einrichtungen im Land anders entschieden. Sie machen den Unterschied zwischen dem Menschen Fabre und seinem Werk. Das ist genau richtig. Denn dass jetzt auch die Kunst von Fabre zur Diskussion steht, ist Ausdruck einer von den schlimmen Auswüchsen der sogenannten Woke-Bewegung.
In ihr fordern Minderheiten ihren vollwertigen Platz in der Gesellschaft, und das ist mehr als gerecht. Aber im Zugwasser davon wird allen anderen, die etwas gegen die Woke-Bewegung vorzubringen haben, der Mund verboten. In Amerika ist das bereits so. Es ist wichtig, dass wir diese Cancel-Kultur nicht übernehmen und jetzt nicht alle Kunstwerke von Fabre verdammen, nur weil der Mensch Fabre sich falsch verhalten hat, findet Het Nieuwsblad.
Kay Wagner