"Lockerungen - Es wird ein Gang höher geschaltet", titelt Le Soir. "Das Recht, wieder zu leben", so die Schlagzeile von La Dernière Heure. "Über die Aufhebung der noch verbleibenden Einschränkungen wird womöglich am 16. Juli gesprochen", schreibt L'Avenir auf Seite eins.
Der Konzertierungsausschuss hat bei seiner gestrigen Sitzung nicht nur die zweite Phase des Sommerplans in Kraft gesetzt, sondern obendrauf noch weitere Lockerungen beschlossen. "Und es wird vier Tage früher gelockert, dank der Roten Teufel", schreibt Het Nieuwsblad. Denn all diese neuen Maßnahmen greifen ab dem 27. Juni, statt, wie bisher vorgesehen, am 1. Juli. Und das ist kein Zufall: Am 27. Juni bestreiten die Roten Teufel wahrscheinlich ihr EM-Achtelfinalspiel und deswegen wollte man zum Beispiel die Verschiebung der Sperrstunde von 23:30 auf 1:00 Uhr schon durchsetzen - für den Fall, zum Beispiel, dass das Spiel in die Verlängerung gehen sollte. Bleibt es jedenfalls bei der positiven Entwicklung der Corona-Zahlen und auch der Impfkampagne, dann könne man bei der nächsten Sitzung des Konzertierungsausschusses am 16. Juli über die Aufhebung der meisten der noch verbleibenden Einschränkungen sprechen, sagte Premierminister Alexander De Croo.
Es gilt, Menschen zur zweiten Impfung zu bewegen
Wir sind noch nicht über den Berg, warnt aber sinngemäß L'Avenir in seinem Leitartikel. Klar sind die Zahlen allesamt im Grünen Bereich. In Sachen Impfungen entwickelt sich Belgien sogar zur weltweiten Referenz. Nur darf man bei aller Euphorie nicht vergessen, dass man erst vollständig geschützt ist, wenn man zwei Impfdosen bekommen hat. Und bislang sind erst drei von zehn Menschen mit Begleiterkrankungen doppelt geimpft. Die Herausforderung wird es nun also sein, wirklich alle zur Einsicht zu bringen, sich tatsächlich auch noch die zweite Impfdosis abzuholen. Und das in einem Moment, in dem sich das Leben fast schon wieder so anfühlt wie früher. Die Leute davon zu überzeugen, sich zu schützen, wenn sie sich eigentlich schon auf den Lorbeeren ausruhen, das wird nicht einfach. Man vergisst dabei, dass sich die aktuelle Entspannung wohl zumindest zum Teil auch durch das sommerliche Wetter erklärt. Sollten bis zum Herbst nicht ausreichend Menschen einen vollständigen Impfschutz haben, dann drohen wir wieder in eine sanitäre Krise zu schlittern.
La Dernière Heure denkt ihrerseits schon an die viel beschworene "Zeit danach". Es sollte doch alles so anders werden: besonnener, nachhaltiger, grüner... in einem Wort: menschlicher. Was hat man da nicht alles hineinprojiziert. Naja, leider müssen wir die rosa Brille wieder abnehmen. Denn, was muss man feststellen? Die "Zeit danach", das ist die "Zeit davor". 16 Monate nach Beginn der Pandemie hat die Realpolitik wieder Einzug gehalten. Die Polarisierung unserer Gesellschaft ist ausgeprägter denn je, fossile Energien spielen nach wie vor eine zentrale Rolle, wir werden immer noch in erster Linie von wirtschaftlichen Interessen geleitet. Lasst uns die sommerliche Freiheit genießen, die uns der Konzertierungsausschuss eröffnet hat. Aber ohne übertriebene Sorglosigkeit oder Naivität: Die "Welt danach", die gibt es nicht, nur die Welt von heute, die, die wir verdienen.
PFOS - Alles für die Autobahn
In Flandern steht nach wie vor der PFOS-Skandal im Fokus. Einige Zeitungen versuchen, die Affäre zu rekonstruieren. "Die 3M-Akten", titelt De Standaard. "Warum die Politik erst nach 17 Jahren reagiert", so die Aufmachergeschichte von De Morgen. In Zwijndrecht bei Antwerpen ist ja ein Gebiet mit einem Radius von 15 Kilometern mit PFOS, einer gesundheitsgefährdenden Chemikalie, verseucht. Verantwortlich ist offensichtlich die örtliche Niederlassung des Chemiekonzerns 3M. Die flämische Regierung und auch die Stadt Antwerpen waren längst darüber informiert und doch wurde die Bevölkerung nicht gewarnt.
PFOS, vier Buchstaben, die Flandern erschaudern lassen, konstatiert La Libre Belgique. Und im Norden des Landes scheint man jetzt plötzlich festzustellen, dass der wirtschaftliche Wohlstand auf Kosten der Umwelt und womöglich auch der Volksgesundheit aufgebaut wurde. Hier sieht man das klassische Muster, das man auch von vergleichbaren Skandalen kennt: Asbest, Glyphosat, Neonicotinoide, die angeblich sauberen Dieselfahrzeuge...: Solange man nicht ganz konkret die verheerenden Auswirkungen sehen kann, gibt es kein Umweltproblem. Erstmal wird immer dem Wirtschaftswachstum Priorität eingeräumt. Auf die Gefahr hin, dass man die Bevölkerung zu Versuchskaninchen macht.
Und alle, wirklich alle Verantwortlichen waren im Bilde, beklagt De Standaard in seinem Leitartikel. Alle wussten Bescheid, dass es ein Problem gab, allerdings blieb die wahre Tragweite erstmal verborgen. Und deswegen wird am Ende auch noch jeder behaupten dürfen, dass er eben nicht vollständig informiert wurde, obgleich man das eigentlich nur hätte googeln müssen. Dafür gibt es Gründe: Bodenverunreinigung, das war nie ein Thema. Alle dachten sie nur an die Fertigstellung des Antwerpener Autobahnrings, auf die man schon seit Jahrzehnten wartet. Und so wurden alle zu Bundesgenossen des Verschmutzers, also des Chemiekonzerns 3M: Das Problem musste schnell aus der Welt geschafft werden, eben um die Bauarbeiten nicht gleich wieder zu verzögern. Alles für die Autobahn, die uns "retten" soll...
Politiker stecken Schwarzen Peter den Beamten zu
Die heiße Kartoffel wurde in diesen Tagen rasend schnell weitergereicht, kann De Morgen nur feststellen. Minister, Bürgermeister, Parteichefs: Alle haben sie versucht, die Schuld möglichst weit von sich zu schieben. Aber zum Glück gibt's die OVAM, die flämische Agentur für Abfallmanagement. Auf den ersten Blick gibt sie den idealen Sündenbock ab: Sie hat das Problem offensichtlich falsch eingeschätzt, auch weil sie mehr mit sich selbst als mit der Sorge um Volksgesundheit beschäftigt war. Nur darf man nicht vergessen, dass in dieser Akte nur politische Schwergewichte auftreten. Von denen hätte man doch erwarten können, dass sie sich die Akte mal genauer ansehen. Aber es ist doch so einfach, den Schwarzen Peter Beamten zuzustecken, die schweigen müssen.
Hier hat vor allem die flämische Regionalregierung versagt, analysiert sinngemäß De Tijd. Alle haben sie weggeschaut. Niemand hat sich die Frage gestellt, welche gesundheitlichen Folgen die Kontamination haben könnte. Früher galt in Flandern noch die Maxime: "Was wir selbst machen, das machen wir besser". Jetzt heißt es nur noch "Was wir selbst machen, das machen wir selbst". Wenn die Autonomie zum Selbstzweck wird, um dann genauso schlecht oder sogar schlechter regiert zu werden, nun, davon haben die Bürger nichts...
Roger Pint