"Knuddeln darf wieder", liest man bei Gazet van Antwerpen. "Wildfremde knuffeln? Ab dem 9. Juni ist das wieder erlaubt", titelt De Standaard. "Social Distancing nicht mehr vorgeschrieben – Laut ministeriellem Beschluss wird die Kontaktblase ab dem 9. Juni abgeschafft", ergänzt Het Nieuwsblad die Hintergründe dieser Lockerung, die zwar noch nicht offiziell, aber im Entwurf von Innenministerin Annelies Verlinden (CD&V) zu finden ist.
Die Gesundheitsexperten haben umgehend diesbezüglich zur Vorsicht gemahnt, stellt Gazet van Antwerpen in ihrem Leitartikel fest. Als ob wir uns wirklich plötzlich Kopf voraus in unzählige enge physische Kontakte stürzen würden, obwohl die Mehrheit von uns noch gar nicht geimpft ist. Schließlich ging es in den letzten Monaten doch nicht darum, irgendwelche Spielregeln um ihrer selbst willen zu befolgen. Es ging um unsere Gesundheit und die unserer Mitmenschen. Und daran ändert sich doch jetzt nichts. Um zu realisieren, wie wichtig Vorsicht auch weiterhin bleiben wird, reicht doch auch ein Blick nach Großbritannien. Trotz eines Rekord-Impftempos breitet sich dort die indische Virus-Variante rasant aus. Die ist ansteckender; und auch wenn die Impfung gegen sie schützen soll, so tut sie es im Vergleich zu anderen Varianten nach nur einer Dosis wohl schlechter. Und wir sollten uns fragen, ob Belgien genug gegen die Gefahr von der anderen Seite des Kanals tut. Pflichtquarantäne und zwei Tests – reicht das wirklich? Die Befolgung der Quarantäne ist doch immer eine Schwachstelle des Corona-Krisenmanagements gewesen. Andere Länder ergreifen jedenfalls drastischere Maßnahmen gegen Reisende aus Großbritannien, schreibt Gazet van Antwerpen.
Schall und Rauch und Cybersicherheit
Mit Reisen in einem anderen Kontext befasst sich auch das GrenzEcho, nämlich mit der Rückkehr der Billigflugreisen: Viele Monate lang schien vieles unerreichbar in dieser Krise. Doch nun rücken viele Annehmlichkeiten des Lebens wieder in greifbare Nähe. Der lange Verzicht hat uns gelehrt, den Augenblick zu greifen, ohne zu viel an Morgen zu denken. Und an die möglichen Folgen. Entsprechend sind auch die hehren Vorsätze etwas aus dem Blickfeld verschwunden, die zu Beginn der Pandemie gefasst wurden. Wir müssen sehenden Auges feststellen, dass sich viele von ihnen im wahrsten Sinne des Wortes in Schall und Rauch auflösen, beklagt das GrenzEcho.
L'Echo kommt anlässlich des diese Woche bekanntgewordenen Informatik-Großangriffes auf das Innenministerium auf das Thema Cybersicherheit zurück: Die Gefahr ist realer denn je. Und wir müssen uns eigentlich bei den Hackern bedanken. Denn die Welle der jüngsten Angriffe hat dazu geführt, dass sich unser Land endlich des wahren Ausmaßes dieser Bedrohung bewusst geworden ist. Viel zu lange hat der Staat, wie auch viele Unternehmen, hier eine Vogel-Strauß-Politik verfolgt. Belgien darf nicht immer nur reagieren, es muss agieren. Und da ist es dann sicher kein Zufall, dass die Föderalregierung vergangene Woche einen großen Aktionsplan angekündigt hat, um Behörden und Einrichtungen besser zu schützen und die Öffentlichkeit über die Gefahren und Gegenmaßnahmen aufzuklären, so L'Echo.
Die rote Linie
Het Nieuwsblad blickt nach Brüssel und auf den Bois de la Cambre. Dort könnte es heute eng werden, denn es will sich allerlei Volk versammeln: von den Party-Anarchisten von "La Boum" über Corona-Skeptiker aller Couleur, die nach eigenen Angaben für die "Freiheit" demonstrieren wollen, bis hin zu Sympathisanten des untergetauchten und gesuchten Soldaten Jürgen Conings. Dass Menschen zusammenkommen, um sich Gehör zu verschaffen, das ist ja an sich kein Problem. Freie Meinungsäußerung gehört zu den Ecksteinen unserer Gesellschaft. Dieses Recht müssen wir schützen, egal wie inkorrekt die Meinungen auch sein mögen. Letztlich wäre es wohl auch besorgniserregender, wenn es nach den letzten Monaten keine Proteste geben würde. Und im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ist es hier noch sehr ruhig geblieben. Aber während man die Motive der Feierwütigen und der Corona-Skeptiker noch irgendwie nachvollziehen kann, so gilt das nicht für die Unterstützer von Jürgen Conings. Um ganz deutlich zu sein: Das ist ein Terrorist, der die Demokratie ablehnt und Menschen physisch bedroht. Damit hat er die rote Linie überschritten und verdient nicht den geringsten Respekt oder Unterstützung. Diese rote Linie ist so fundamental wie das Recht auf freie Meinungsäußerung. Darüber gibt es keine Diskussion, unterstreicht Het Nieuwsblad.
Die Menschen im Bois de la Cambre feiern nicht das Recht auf freie Meinungsäußerung, sondern das Recht auf freie Provokation, zitiert De Standaard den Brüsseler Bürgermeister. Diese Provokation nimmt inzwischen einen besorgniserregenden Umfang an. Und neu ist, dass sie auch gefährlich wird. Dass ein Soldat beschlossen hat, Panzerfäuste, Maschinengewehr und Pistole zu stehlen, um einen Virologen zu ermorden, das lässt alles kippen. Rechtsextremismus trifft auf Viruswahnsinn. Und die Unterstützung dafür ist überraschend groß, warnt De Standaard.
L'Avenir mahnt in diesem Zusammenhang zu Wachsamkeit auch im Süden des Landes. Bislang ist dieser Teil Belgiens verschont geblieben, weil die Rechtsextremen unfähig waren, sich hier zu organisieren und zu strukturieren, weil sie keinen Führer gefunden und noch kein passendes nationalistisches Narrativ zustande gebracht haben. Aber die Experten warnen: Das entsprechende Gedankengut ist da und verbreitet sich. Es tritt bisher nur eben in anderer Form zutage, nämlich als Wutbewegung, die auf der Welle der Verschwörungstheorien und des allgemeinen Überdrusses reitet. Die Gesundheitskrise und das bröckelnde Vertrauen in die Institutionen haben zu Breschen geführt, die diese Bewegung nicht zögern wird zu stürmen. Darauf muss nicht nur politisch geantwortet werden, sondern auch demokratisch und sozioökonomisch. Denn Frust, Ungleichheit und Ängste sind der Nährboden, auf dem der Rechtsextremismus in der Gesellschaft gedeiht, ist L'Avenir überzeugt.
Die Ersten
La Dernière Heure schließlich kommentiert die Feier von 75 Jahren italienischer Einwanderung nach Belgien. Was sich zu einer Liebesheirat entwickelt hat, hat alles andere als romantisch begonnen. Die Arbeit in den Kohleminen war mühselig und die Lebensumstände alles andere als beneidenswert. Nicht, dass die der wallonischen Kumpel viel besser gewesen wären, aber es hat seine Gründe, warum gerade die Italiener ihre Kollegen angespornt haben, für ihre Rechte einzustehen. Und warum so viele Gewerkschaftsführer aus diesen Familien stammen.
Die Italiener waren die erste Welle, lange vor den Spaniern, Griechen, Türken und Marokkanern. Und sie waren die ersten, die den damals noch legalen Rassismus und den Spott zum Beispiel auf den Pausenhöfen und in den Cafés zu spüren bekommen haben, erinnert La Dernière Heure.
Boris Schmidt