"Rock Werchter wieder abgesagt", titeln De Morgen und L'Echo. "Die Festival-Wiese in Werchter bleibt auch in diesem Sommer leer", so die Schlagzeile von Het Nieuwsblad. "Rock Werchter zieht die Reißleine", schreibt das GrenzEcho auf Seite eins.
Das größte Rock- und Popfestival des Landes wird auch in diesem Jahr nicht stattfinden. Das haben die Verantwortlichen von Rock Werchter gestern schweren Herzens angekündigt. "Für uns gab es nur 'alles oder nichts' - und 'alles' war nicht möglich", so bringt L'Echo die Begründung für die Absage auf den Punkt. Einige Zeitungen sehen in der Entscheidung ein Zeichen an der Wand: "Nach Werchter droht eine Absage-Welle", glaubt etwa L'Avenir. La Libre Belgique ist deutlicher: "Uns droht ein zweiter Sommer ohne Festivals".
"Belgien allein gegen den Rest der Welt"
Und die aktuelle epidemiologische Lage scheint den Rock-Werchter-Verantwortlichen Recht zu geben. "Immer mehr Patienten auf der Intensivstation", titelt Het Nieuwsblad. "Und das bereitet große Sorgen", hakt De Morgen ein. Die Zahl der Covid-Patienten auf den Intensivstationen ist so hoch wie seit Ende Dezember nicht mehr. Für die Krankenhäuser wurde Phase 1B ausgerufen, das bedeutet, dass die Hälfte aller Intensiv-Beten für Covid-Patienten freigehalten werden müssen.
"Belgien allein gegen den Rest der Welt", so derweil die Aufmachergeschichte von La Dernière Heure. Gemeint ist die belgische Entscheidung, den Astrazeneca-Impfstoff weiter zu verabreichen. Inzwischen haben 14 EU-Staaten entschieden, das Präparat zunächst nicht mehr zu verspritzen, wegen der Zweifel angesichts möglicher ernster Nebenwirkungen. Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke verteidigt derweil seine Entscheidung, durchzuziehen. Sein Hauptargument steht auf Seite eins des GrenzEchos: "Das Risiko ist weitaus geringer als der Nutzen".
Ein teuflisches Dilemma…
"Der Hauch von Optimismus, der vor ein paar Wochen noch zu spüren war, der hat sich definitiv verflüchtigt, meint leicht resigniert De Morgen. Die Absage von Rock Werchter, das war gestern jedenfalls nicht die einzige schlechte Neuigkeit. Wieder müssen wir uns Sorgen machen wegen der steigenden Corona-Zahlen, wieder müssen die Krankenhäuser eine höhere Alarmstufe ausrufen. Politiker, die noch vor einigen Tagen "todesmutig" für die Öffnung der Horeca-Terrassen plädierten, die wurden spätestens jetzt von der Realität eingeholt. Immer, wenn es einen Moment der Hoffnung gibt, kehrt dieses teuflische Virus zurück, wie der Bösewicht in einem Horrorfilm. In diesem Zusammenhang erscheint die belgische Entscheidung, den Astrazeneca-Impfstoff weiter zu verabreichen, aber als die einzig richtige. Die Corona-Zahlen sind der Beweis: Wir können uns weitere Verzögerungen in der Impfstrategie einfach nicht leisten.
Nur die Impfungen können uns von dieser Krise erlösen. Und da sind die alarmierenden Meldungen über mögliche Nebenwirkungen mehr als nur ein Stein im Schuh, analysiert De Standaard. Die politisch Verantwortlichen kommen so nämlich in ein teuflisches Dilemma. Das Vorbeugeprinzip gebietet es eigentlich, die Impfungen mit dem Astrazeneca-Präparat auszusetzen. Der Preis ist allerdings hoch. Die Nachteile einer solchen Entscheidung sind größer als der Nutzen: Wer an Covid erkrankt, bei dem ist das Risiko einer Thrombose nämlich wesentlich höher. Außerdem steigt wieder die Zahl der Krankenhausaufnahmen. Vor diesem Hintergrund ist die belgische Entscheidung, durchzuziehen, absolut zu rechtfertigen.
… und eine mutige Antwort darauf
Frank Vandenbroucke hat Nein gesagt zu einer Aussetzung der Impfungen mit dem Astrazeneca-Präparat. Und das ist außerordentlich mutig, meint auch La Dernière Heure. Ein Zusammenhang zwischen dem Impfstoff und dem Auftreten von Thrombosen konnte bislang nicht hergestellt werden. Insofern kann man den Eindruck haben, dass die Entscheidungen der Nachbarländer weniger die Bevölkerung, sondern in erster Linie die Verantwortlichen schützen sollen.
Auch Le Soir hebt den politischen Mut der belgischen Entscheidungsträger hervor. In den Nachbarländern ist man offensichtlich mehr den Emotionen als den Fakten gefolgt, haben die Verantwortlichen es offensichtlich nicht gewagt, ihren Bürgern gegenüber eine Entscheidung mit vernünftigen Argumenten zu rechtfertigen, um sie stattdessen in trügerischer Sicherheit zu wiegen. Das sakrosankte Vorbeugeprinzip kann auch zum Vorwand für Untätigkeit und Feigheit werden.
Es kommt nicht so häufig vor, dass Belgien, im Gegensatz zu den Nachbarländern, mal die richtige Entscheidung trifft - und das auf der Grundlage derselben Daten, lobt auch De Tijd. Klar: Die insgesamt 14 EU-Staaten, die die Impfungen mit Astrazeneca ausgesetzt haben, sind überzeugt, gute Gründe für diese Entscheidung zu haben. Bei einigen Patienten wurden Blutgerinnsel festgestellt, was zu Thrombosen führen kann. "Und bis das geklärt ist, gehen wir lieber auf Nummer sicher", hört man die Verantwortlichen sagen. Dieses Argument klingt gut, es greift aber nicht. Indem man die Impfkampagne aussetzt, geht man nicht auf Nummer sicher. Allenfalls tauscht man eine unsichere Situation durch eine andere aus. Deswegen hat Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke mehr als Recht, wenn er hier einen kühlen Kopf behält. Im Umkehrschluss ist es beunruhigend, dass man in anderen Ländern eben diesen kühlen Kopf verloren hat.
Von wegen Nullrisiko!
"Auch Nullrisiko kann tödlich sein", meint La Libre Belgique. Seit Beginn der Pandemie hat das Coronavirus weltweit über 2,6 Millionen Todesopfer gefordert. Und überall in Europa steigen die Zahlen wieder. Die Aussetzung der Impfungen mit dem Astrazeneca-Präparat wird demgegenüber zwangsläufig die Impfkampagne verlangsamen. Die Folgen: höheres Infektionsrisiko, steigende Krankenhausaufnahmen, mehr Todesopfer. Aber offensichtlich ist ein Covid-Toter gewissermaßen "akzeptabler" für unsere Gesellschaften als eine minimale Gefahr von Nebenwirkungen. In unserem alten Europa ist das Risiko an sich offensichtlich unerträglich geworden.
"Nullrisiko gibt es nicht. Nie!", ist auch Het Nieuwsblad überzeugt. Aber offensichtlich sind wir sensibler für die Risiken, die wir eingehen, wenn wir "etwas" tun, statt für die Gefahr, die uns droht, wenn wir untätig bleiben. Nicht mehr zu impfen, das ist nur sicherer, wenn man ausblendet, dass nach wie vor eine Pandemie wütet. Denkbar ist, dass die Regierungen nur nervös werden, weil sie sich durch Impfgegner unter Druck gesetzt fühlen. Und tatsächlich verfügen die über ein großes Schadenspotential. Nur wird niemand Impfgegner überzeugen, sie sind immun für wissenschaftliche Beweisführungen. Wenn man seine Politik auf diese Leute abstimmt, dann ist das das dümmste, was man machen kann.
Roger Pint
@Roger Pint
Bravo. Ein erstklassiger Kommentar u.absolut richtig.
Angesichts der Tatsache, dass Astra Zeneca seine Lieferversprechen im 1. Quartal nicht einhalten konnte und auch für das 2. Quartal eine Reduzierung der Liefermengen um fast 60% angekündigt hat, wirkt die stoische Fixierung auf diesen, seit seiner Entwicklung umstrittenen Impfstoff, wie das Rufen im Walde.
Nicht die vorübergehende Aussetzung der Impfung mit AZ kompromittiert den für die Bekämpfung der Pandemie unerlässlichen Erfolg der Impfkampagne, sondern das nachzuvollziehend schwindende Vertrauen der Menschen in hoffentlich nur diesen Impfstoff.
Sollte die Bereitschaft der Menschen, sich impfen zu lassen durch die mediale Diskussion über Astra Zeneca Schaden nehmen, hat die mutige belgische Haltung am Ende keinerlei Wert.
Auch für jemanden, der die Pandemie immer ernst genommen und die Entscheidungen der Regierung, auch wenn sie bisweilen widersprüchlich oder ungerecht erschienen, verteidigt und mitgetragen hat, gibt es einen Zeitpunkt, ein Mitspracherecht einzufordern.
Dieser ist spätestens dann gekommen, wenn es um die Frage geht, welcher Impfstoff mir injiziert werden soll.
Sehr geehrte Frau Jetten-Endres,
die BRF-Redaktion freut sich sehr, dass Sie die Arbeit der Kollegen wertschätzen. Ich muss sie aber darauf hinweisen, dass es sich bei der Presseschau um einen nach journalistischen Standards zusammengestellten Überblick der Schlagzeilen, Leitartikel und Kommentare aus anderen belgischen Medien handelt. Dieser Überblick stellt nicht die Meinung des Redakteurs der Presseschau dar. Für solche Meinungsbeiträge haben wir eigene Formate wie den Kommentar.
Stephan Pesch
Chefredakteur