"Ein Bild aus den Altenheimen, dass es einem den Atem verschlägt", titelt De Morgen. Het Laatste Nieuws wird konkreter: "Die Menschen saßen in der Unterhose im Flur und weinten", schreibt die Zeitung. "Berichte, die mindestens genauso schlimm sind wie die Zahlen", so die Schlagzeile auf Seite eins von De Standaard.
Der flämische Ombudsdienst hat einen Bericht freigegeben, in dem 45 Mitarbeiter anonym schildern, wie sie die Corona-Zeit in den Altenheimen erlebt haben. Und die Augenzeugenberichte sind mitunter regelrecht apokalyptisch. In drei Worten zusammengefasst, schreibt Het Laatste Nieuws: "Chaos, Angst und Panik". Sogar die frankophone La Dernière Heure hat das Thema aufgegriffen: "45 erschreckende Zeugenberichte", schreibt das Blatt.
Die "vergessene Front"
Het Nieuwsblad spricht von der "vergessenen Front". Die Aussagen der 45 Altenheim-Mitarbeiter sind einfach nur schockierend; die Eindrücke schwanken zwischen unsäglich und unmenschlich. Die schrecklichen Zahlen, die kannten wir schon - in den Alten- und Pflegeheimen sind bekanntlich viel zu viele Menschen gestorben. Jetzt, durch diesen Bericht, jetzt haben wir auch Einblick bekommen in die schreckliche Realität hinter den Mauern der Einrichtungen. Kurz und knapp: Da herrschte absolutes Chaos. Im Parlament wird man das aufarbeiten müssen. Für den zuständigen flämischen Minister Wouter Beke kann da die Luft schnell dünn werden. Dazu aber nur so viel: Politische Abrechnungen werden keins der grundlegenden Probleme in den Alten- und Pflegeheimen lösen. Die fundamentale Frage sollte vielmehr lauten, welche Gesellschaft wir uns für die Zukunft wünschen und welchen Preis wir bereit sind dafür zu zahlen.
De Morgen argumentiert ähnlich. Die Berichte aus den Alten- und Pflegeheimen sind einfach nur schrecklich. Und die Opposition wirft der Regierung zu Recht vor, dass man die Einrichtungen hat im Regen stehen lassen. Es wurden Fehler gemacht, das wird mit jedem Tag deutlicher. Allein die Schuldfrage zu klären, das wird aber nicht reichen. Die Corona-Krise hat in den Altenheimen tiefe Wunden geschlagen. Auch beim Personal. Viele der Beschäftigten sind mental angeschlagen. Neben der Suche nach den politischen Verantwortlichkeiten sollte man sich vor allem auch um die Menschen in den Altenheimen kümmern: die Bewohner und das Personal.
"Ein Schlag ins Gesicht"
Der Leitartikel von De Standaard liest sich wie ein Fazit: Der Bericht über das Chaos in den Altenheimen lässt den Leser erschaudern, meint das Blatt. Und tatsächlich: Da müssen nicht nur die Verantwortlichkeiten ermittelt, sondern muss der Fokus erweitert werden. Mit vor allem einer Frage: Wie geht unsere Gesellschaft mit ihren Senioren um?
"Aber sind wir bereit, uns diese Fragen zu stellen?", wirft Gazet van Antwerpen ein. Man kann fast den Eindruck haben, dass der Bericht des flämischen Ombudsdienstes zu einem "ungünstigen Zeitpunkt" kommt. Im Grunde ist der Zeitpunkt immer ungünstig, denn wir haben uns solche Fragen nie gerne gestellt. Dabei sind die Herausforderungen gerade im Bereich der Alten- und Pflegeheime gigantisch. Aber, es gab ja gestern gute Neuigkeiten: Die drei Könige hätten die Wogen geglättet, hieß es da. Gestritten hatten die sich ja über das Abtreibungsgesetz. Ja, Sie hören richtig, das Abtreibungsgesetz. Mal ernsthaft: Wir haben doch bestimmt ganz andere Sorgen! Dieses ganze "Königsdrama", das sich da in den letzten Tagen in der Rue de la Loi abgespielt hat, das ist doch ein Schlag ins Gesicht, insbesondere für alle Bewohner und Angestellten der Alten- und Pflegeheime…
"Königsdrama" mit unverantwortlichen Parteivorsitzenden
Apropos: Het Nieuwsblad macht heute mit eben diesem "Königsdrama" auf. "Die Wogen sind doch noch nicht geglättet", schreibt das Blatt. Eigentlich hatten die drei Parteipräsidenten am Freitag ja das Kriegsbeil begraben. Dachte man zumindest. MR und CD&V deuten aber die Einigung unterschiedlich. Für die CD&V ist der Streit über das Abtreibungsgesetz vom Tisch bis es ein Regierungsabkommen gibt. Für die Liberalen ist es dagegen immer noch möglich, dass es zu einer Abstimmung über das neue Gesetz kommt.
Viele Zeitungen haben sichtbar die Nase voll von den Irrungen und Wirrungen der föderalen Politik. Besonders scharf ist De Tijd: Immer, wenn man denkt, dass man alles gesehen hat, sackt das Niveau noch ein bisschen mehr in den Keller, giftet das Blatt. Mal ehrlich: Sind die Rahmenbedingungen noch nicht schlimm genug? Was brauchen unsere Politiker denn noch, um endlich den Ernst der Lage zu erkennen? Stattdessen sind unverantwortliche und unerfahrene Parteivorsitzende damit beschäftigt, alle möglichen Filmchen und Bildchen in die sozialen Netzwerke zu posten. Auf dem Verhandlungstisch herrscht demgegenüber gähnende Leere. Nach über 400 Tagen des Stillstands muss jetzt endlich was passieren. Und das ist auch im Interesse der Parteien. Im Moment sind die einzigen Gewinner die extremen Parteien.
Auf dem Weg in ein Horrorszenario?
Auch das GrenzEcho spricht von einem "Trauerspiel". Belgien braucht jetzt erstens: eine handlungsfähige Regierung, zweitens Politiker, die mutig die Weichen Richtung Zukunft stellen und drittens endlich eine Vollendung der Staatsreform. Wenn insbesondere die wirtschaftliche Notlage nicht Grund genug ist, um über den eigenen Schatten zu springen, dann bleibt nur die bittere Feststellung, dass es den Akteuren in Brüssel an politischem Verständnis fehlt. Sie wären fehl am Platz.
Der Streit über die Abtreibungsgesetzgebung hat viel Schaden angerichtet, meint auch sinngemäß Het Laatste Nieuws. Vor allem, weil dabei das Parlament geknebelt wurde. Nachdem das Land schon seit über 400 Tagen vor sich hindümpelt, will man jetzt auch noch den Volksvertretern einen Maulkorb anlegen. Dann kann man auch gleich ein Kreuz über die Politik machen.
Was für ein kindisches Gekabbel hat man uns da wieder zum Besten gegeben, wettert auch Het Belang van Limburg. Und das über 400 Tage nach Wahl, und zudem mitten in der schlimmsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Aber Hauptsache, "die Wogen sind geglättet", was ja gleich durch ein Foto auf Twitter illustriert werden musste. Die "drei Könige" sollten besser mal am Inhalt eines möglichen Regierungsabkommens arbeiten. An diesem Wochenende wird sich zeigen, ob ihre Arizona-Koalition lebensfähig sein kann. Verläuft auch diese Spur im Sande, dann bleiben wohl nur noch Neuwahlen. Und das wäre in allen Belangen ein Horrorszenario...
Roger Pint