"Jede Stimme zählt tatsächlich", titelt De Standaard. Das Blatt kann nur feststellen, dass die Floskel, die man vor jeder Wahl hört, oft genug tatsächlich der Realität entspricht. Beispiel: Im ostflämischen Laarne hat die Open VLD die absolute Mehrheit um sieben Stimmen verfehlt. In Wavre im Wallonischen Brabant hat die MR ihre absolute Mehrheit mit sechs Stimmen Vorsprung verteidigt. Deswegen häufen sich inzwischen auch die Anträge auf Überprüfung der Wahlergebnisse. "Groen verlangt eine neue Zählung in Bilzen", bemerkt etwa Het Belang van Limburg. In Wavre will die CDH wegen des knappen Ergebnisses nachzählen lassen. "'Jede Stimme zählt', das ist eben doch keine Floskel", bemerkt De Standaard.
"Kumbaya" an der Schelde?
Viele Leitartikler beschäftigen sich heute ebenfalls weiter mit den Nachwirkungen der Kommunalwahlen. In Flandern richten sich nach wie vor viele Augen auf Antwerpen. Dort ist der amtierende Bürgermeister Bart De Wever als eindeutiger Wahlsieger auf der Suche nach Mehrheitspartnern. Die bisherige Koalition aus N-VA, CD&V und Open VLD würde nur noch über eine knappe Mehrheit von einem Sitz verfügen. Deswegen prüft De Wever auch andere Alternativen. Auffallend ist, dass der N-VA-Chef dabei besonders um die Grünen buhlt. Im Wahlkampf hatten beide Seiten noch kein gutes Haar aneinander gelassen.
"Jetzt soll also an der Schelde ein friedliches 'Kumbaya' angestimmt werden?", wundert sich fast schon Gazet van Antwerpen. N-VA und Groen singen im Chor, tauschen ihre Dieseltransporter gegen Lastenfahrrädern ein. Mal ernsthaft: Die Bruchlinien zwischen N-VA und Groen sind bekannt. Die Grünen wollen eine autofreie Innenstadt, die N-VA nicht. Die N-VA will den Hafen vergrößern, Groen lehnt das ab. Da sind die möglichen Schnittmengen sehr klein. Hinzu kommt: Im Mai nächsten Jahres stehen schon die nächsten Wahlen an. Die Grünen werden ihren neuerlichen Elan da mitnehmen wollen. De Wever braucht seinerseits einen Koalitionspartner aus dem linken Spektrum, weil die Alternative zu wackelig ist. Es bleibt ein intensives strategisches Spiel.
"Jamaika + N-VA" als föderale Strategie?
Dass die Grünen die N-VA nicht gleich freudig umarmen, das darf Bart De Wever doch eigentlich nicht verwundern, gibt Het Laatste Nieuws zu bedenken. Feldherr De Wever hat in den letzten zehn Jahren wirklich keine einzige Gelegenheit ausgelassen, um auf die linken Parteien einzuprügeln. Wenn er jetzt plötzlich erklärt, dass er kriegsmüde sei, dann mag es zunächst schwerfallen, ihm das abzunehmen. Konkret: Meint De Wever sein Versöhnungsangebot an Groen ernst oder ist das reine Strategie? Denn auch daran hat uns der N-VA-Chef längst gewöhnt. Man kann es den Grünen nicht verübeln, wenn sie an das alte Sprichwort denken: "Wenn der Fuchs predigt, so nehmt die Gänse in Acht".
Für Het Belang van Limburg ist die Sache derweil klar: De Wevers ausgestreckte Hand in Richtung Groen ist Teil einer mittelfristigen Strategie. Grundfeststellung: Die Wallonie driftet immer weiter nach links, mit der PTB sogar in Richtung extrem links. Für den Fall, dass eine Neuauflage der Regierung Michel Mitte nächsten Jahres unmöglich geworden ist, braucht De Wever eine Alternative. Ansonsten besteht die Gefahr, dass er von einer "klassischen Dreierkoalition" aus Sozialisten, Liberalen und Christdemokraten, in die Opposition befördert werden könnte. Da ist es plötzlich nicht mehr verwunderlich, dass De Wever eine Koalition mit Groen auf einmal in Erwägung zieht. Das würde die Tür öffnen für ein Jamaika-Modell plus N-VA auf föderaler Ebene.
Die PTB ist nicht gleich Vlaams Belang
Auf frankophoner Seite beherrscht nach wie vor die PTB die Nachwahl-Analysen. Le Soir befürchtet, dass der Umgang mit der marxistischen Partei einen falschen Vorwand liefern könnte. Konkret: Vor allem in Flandern sehen einige Beobachter mögliche Koalitionen mit PTB-Beteiligung in der Wallonie und in Brüssel als vermeintliche Rechtfertigung für ein Aufbrechen des Cordon sanitaire um den Vlaams Belang. "Die PTB darf nicht herhalten als Entschuldigung für den Vlaams Belang", fordert aber Le Soir.
Klar: In beiden Fällen handelt es sich um Extremisten. Vergleichbar sind sie dafür aber nicht. Essenz des Rechtsextremismus ist der Rassismus, der also Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder ihrer Religion als minderwertig einstuft. Für die extreme Linke ist der Kapitalismus der Feind, wobei das nicht beinhaltet, dass man gleich jene vernichten muss, die ihn anbeten. Das soll keine Generalabsolution für die PTB sein. Die PTB zu missbrauchen, um den Vlaams Belang salonfähig zu machen, das wäre aber intellektuell unlauter.
Apropos PTB: Eine der Gemeinden, wo die Marxisten vielleicht bald mit am Ruder sind, das ist Molenbeek. Dort hat die Sozialistin Catherine Moureaux ihren Vater gerächt und die MR wieder in die Opposition geschickt. Innerhalb von drei Tagen ist Molenbeek wieder zum Schlachtfeld in der Auseinandersetzung zwischen Rechts und Links geworden, analysiert L'Avenir. Insbesondere N-VA-Politiker suggerieren, dass Molenbeek jetzt in Windeseile wieder zu dem gefährlichen Sumpf wird, der letztlich Terroristen wie die Abdeslams hervorgebracht hat. Molenbeek steht also nach wie vor national und sogar international unter Beobachtung. Die Leidtragenden, das sind wohl die Bewohner.
Europe first!
Einige Blätter beschäftigen sich mit dem EU-Gipfel, der gestern zu Ende gegangen ist. Am Rande ging es dabei auch um Italien. Die Regierung in Rom hat einen Haushaltsentwurf vorgelegt, der ebenso grob wie offensichtlich gegen die Euro-Stabilitätskriterien verstößt. Die EU ist hier in einer Zwickmühle, stellt L'Echo fest. Eigentlich muss man dieses Budget ablehnen. Wohlwissend, dass man dann das Spiel der regierenden Rechtsextremisten und Linkspopulisten mitspielt und sie zu Märtyrern macht. Europa muss dringend ein Mittel finden gegen den Aufstieg der Extremisten.
Auch das GrenzEcho ärgert sich darüber, dass die EU permanent als Sündenbock herhalten muss. Dabei brauchen wir jetzt doch eigentlich ein starkes Europa. "Europe last" ist im Zeitalter von "America first" keine Option.
Roger Pint