Realistischerweise sollten wir annehmen, dass jede Partei – ob sie nun in der Regierung oder Opposition sitzt – insgeheim einen Notfallplan in der Schublade hat, falls es zum Crash kommen sollte. Die Opposition hat definitionsgemäß sogar ein handfestes Interesse an einer solchen Krise, klar. Aber zumindest, wenn man mit in der Regierung sitzt, dann ist es sicher kein gutes Zeichen, wenn man vor laufenden Kameras zugibt, dass man in Betracht zieht, dass die Koalition 2023 stürzen wird. Womöglich sogar noch vor Ende dieses Jahres. So wie es der CD&V-Vorsitzende in spe Sammy Mahdi am Dienstagabend im flämischen Fernsehen getan hat.
Nun hat Mahdi als wohl bald frischgebackener Präsident der flämischen Christdemokraten allen Grund, lieber über alles Mögliche zu reden – außer über die desaströsen Umfrageergebnisse der mittlerweile in den Wahlabsichten kleinsten Partei Flanderns. Wenn es sein muss, selbst über eine Regierungskrise. Umso besser, wenn ihm das gleichzeitig die Chance bietet, die Vorzüge seiner Partei und Minister in ein günstiges Licht zu rücken und sich als Stimme der Vernunft in Schale zu werfen, die die Vivaldi-Streithähne dazu aufruft, ihre Differenzen im Interesse des Allgemeinwohls beiseite zu legen. In dem Fall zur Umsetzung der notwendigen großen Reformprojekte.
Andere glauben, dass Mahdi nur das ausspricht, was viele in der Koalition denken, aber nicht öffentlich aussprechen wollen: Nämlich, dass es sich angesichts der ständigen Streitereien mittlerweile um die Chronik eines angekündigten Todes handelt – wenn nicht radikal eingegriffen wird. Daher weht wohl auch der Wind, wenn Kristof Calvo von Groen ein neues oder überarbeitetes Regierungsabkommen fordert. Andere wiederum vermuten eine Taktik, um die frankophonen Liberalen MR dazu zu zwingen, ihrem auf Dauerkrawall gebürsteten Vorsitzenden Georges-Louis Bouchez mal wieder etwas die Zügel anzulegen.
Aber egal, was nun konkret dahinter steckt, es gibt den Spruch "Bis einer heult!" nicht umsonst! Wenn Mahdi es übertreibt, dann könnte er das Unglück quasi herbei reden. Wenn Calvo eine Neuverhandlung des Regierungsabkommens will, dann sollte er sich bitte kurz vor Augen halten, wie lange das letztes Mal gedauert hat. Und ob die dafür notwendige Zeit und Energie nicht in akutere Probleme gesteckt werden sollte, wie die großen Reformen.
Und diejenigen, die mit der metaphorischen Pistole in Richtung MR wedeln, sollten aufpassen, dass sie sich dabei nicht versehentlich selbst in den Fuß schießen. Etwa, wenn für die MR ihr Präsident, beziehungsweise seine Vorstöße, doch wichtiger sein sollten als der Frieden in der Vivaldi-Koalition.
Und etwas anderes sollten sich alle Regierungsparteien vergegenwärtigen: Wenn ohne eine zumindest halbwegs vorzeigbare Bilanz zur Wahlurne geschritten wird, dann werden vor allem die Extremisten zulegen. Eine handlungsfähige Regierung und damit die beste Garantie für ein politisches Überleben rücken damit nur in noch weitere Ferne.
Boris Schmidt
Sehr guter Kommentar.
Nie vergessen :
Belgien ist das Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten.