Sonntag, gegen 12:30 Uhr. Viele Sportfans in Belgien blicken gebannt auf ihren Fernseher. Nina Derwael absolviert ihr Finale am Stufenbarren. Sie ist eigentlich die Favoritin. Jetzt müssen nur noch die Nerven halten. Spannung pur.
"Sieht gut aus", sagt der flämische Kommentator. Selbst, wer sich bislang nicht wirklich für den Turnsport interessiert hat, wird von der Spannung erfasst. Auch in Hasselt, in der ersten Turnschule von Nina Derwael, halten ihre Fans die Luft an. "Das ist DER Augenblick in Ninas Karriere", sagte in der VRT Lisy Genné, ihre erste Trainerin. Darauf hat Nina hingearbeitet seitdem sie zwei Jahre alt ist.
Jetzt ist sie 21 und absolviert bei den Olympischen Spielen ihr Finale am Stufenbarren. Beim Handstand macht sie einen kleinen Fehler, aber immerhin unterläuft ihr kein grober Patzer - im Gegensatz zu ihren Konkurrentinnen, die offensichtlich mit dem Druck noch wesentlich schlechter umgehen können. Nach Nina Derwael folgen noch fünf weitere Konkurrentinnen. Der eine oder andere dürfte sich die Nägel abgekaut haben. Um 13:17 hat das Warten ein Ende: Nina Derwael gewinnt die Golfmedaille am Stufenbarren.
In Hasselt explodiert förmlich der Jubel. Lisy Gené, die erste Trainerin von Nina Derwael, hält es nicht mehr auf dem Stuhl. "Eine Goldmedaille! Im Turnen! Unfassbar! Wie herrlich ist das denn?" Es ist wirklich ein Ereignis! Eine olympische Goldmedaille im Turnen gab's in Belgien noch nie. "Historisch", das Adjektiv ist denn auch nicht übertrieben.
Magischer Moment
Sie könne es immer noch nicht fassen, sagte Nina Derwael am Morgen in der VRT. Sie müsse das erst noch sacken lassen. Womöglich werde sie das erst realisieren, wenn sie wieder zuhause in Belgien ist.
Es ist freilich nicht ihr erster Titel. Nina Derwael war schon zwei Mal Weltmeisterin. Ein auch am Sonntag von ihr gezeigter Sprung am Stufenbarren ist sogar nach ihr und einer britischen Turnerin benannt: der "Derwael-Fenton". Nina Derwael weiß also, wie sich Gewinnen anfühlt. Und doch sei ein Olympiasieg nochmal was ganz Besonderes, sagte sie in der RTBF in bestem Französisch. Jeder konzentriere sich auf die Spiele. Und dann am Ende die Goldmedaille um den Hals zu haben, das sei ein unglaublich schönes Gefühl.
Zumal gerade die letzten zwei Jahre für Nina Derwael nicht die einfachsten ihrer Karriere waren. Die Corona-Krise und vorher eine Debatte um ihre beiden Trainer haben die Ausnahmeturnerin arg mitgenommen. Dennoch blieb der Fokus auf den Olympischen Spielen. Natürlich sei der Druck auch entsprechend groß gewesen, sagte Nina Derwael in der VRT. Es war ein langer Weg von fünf Jahren seit den Spielen von Rio - das alles mit vielen Höhen und Tiefen. Aber sie habe immer gewusst, warum sie das alles macht. Und das habe sich endlich ausgezahlt. Die Nationalhymne bei der Siegerehrung zu hören, das sei jedenfalls ein magischer Moment gewesen, sagte Derwael.
Glückwünsche von allen Seiten
Von allen Seiten gab es jedenfalls Glückwünsche. Sogar der König habe sie angerufen, um ihr zur Goldmedaille zu gratulieren.
Dieser Olympiasieg könnte dem Turnsport in Belgien natürlich jetzt einen regelrechten Boost geben. Viele junge Turnerinnen haben schon jetzt ein Poster von Nina Derwael an der Wand hängen. Und jetzt wird die Begeisterung nochmal größer, ist Peter Frederickx überzeugt, der Vorsitzende des flämischen Turnverbandes.
Nina Derwael will jetzt erstmal eine Pause einlegen und sich ihrer Familie und ihren Freunden widmen. Doch ans Aufhören denkt sie noch nicht. In zwei Jahren findet die Turn-WM in Belgien statt, genauer gesagt in Antwerpen. Und ein Jahr später sind schon wieder Olympische Spiele; 2024 in Paris.
Roger Pint