Martine Engels arbeitet bei Kaleido, dem Zentrum für gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen im Bereich der psychosozialen Entwicklung. Sie weiß, wie es den Kindern und Jugendlichen in Ostbelgien geht.
Frau Engels, hat sich der Druck, der auf Kindern und Jugendlichen lastet, in den letzten Jahren verstärkt?
Wir erleben, dass viele junge Menschen schulisch, sozial und auch emotional immer mehr unter Druck stehen. Sie müssen funktionieren, Leistung bringen, Entscheidungen treffen - und das in einer Welt, die sehr schnell und komplex geworden ist. Das führt dazu, dass Jugendliche sich oft überfordert fühlen oder das Gefühl haben, nie "genug" zu sein. Dieser Druck wirkt sich direkt auf die mentale Gesundheit aus. Wir sehen mehr Stress, Schlafprobleme, Ängste und Schwierigkeiten mit dem Selbstwert. Mentale Gesundheit ist deshalb kein Randthema, sondern die Grundlage dafür, dass junge Menschen sich überhaupt entwickeln können.
KönnenSie ein praktisches Beispiel geben, welche Rolle Kaleido Ostbelgien bei der gesunden Entwicklung von Kindern und Jugendlichen spielt?
Wir sind ganz nah an den Kindern und Jugendlichen dran: im Schulalltag, in Gesprächen mit Eltern, Lehrkräften oder in Klassen. Unser wichtigstes Werkzeug ist die Beziehungsarbeit - wir bauen Vertrauen auf. Nur wenn ein Kind merkt "Da ist jemand, der mich wirklich sieht - nicht nur meine Noten oder mein Verhalten", dann können wir auch über Themen wie Stress, Angst oder Selbstwert sprechen. Wir begleiten, wir hören zu, wir nehmen ernst - das ist der Kern unserer Arbeit.
Was sind die größten Belastungen, die Sie momentan bei Jugendlichen beobachten?
Wir leben in einer Leistungsgesellschaft und das spüren Jugendliche stark. Es geht längst nicht mehr nur um gute Noten, sondern darum, in allen Bereichen zu funktionieren - in der Schule, im Sport, im Freundeskreis, online. Überall scheint die Botschaft zu sein "Du musst etwas leisten, um etwas wert zu sein". Dieser ständige Vergleich mit anderen führt dazu, dass viele Jugendliche sich immer stärker selbst beobachten und bewerten. Das kann leicht in soziale Ängste übergehen - also die Sorge, sich zu blamieren, ausgeschlossen zu werden oder nicht dazuzugehören. Wir sehen häufiger Rückzug, Unsicherheit, Schamgefühle, aber auch Mobbing und Ausgrenzung, besonders dort, wo Gruppen stark über soziale Medien funktionieren. Das alles wirkt sich massiv auf das Selbstwertgefühl und das seelische Gleichgewicht aus. Genau da setzen wir an: Wir versuchen jungen Menschen zu zeigen, dass sie nicht perfekt sein müssen, um angenommen zu sein - dass ihr Wert nicht von Leistung oder Likes abhängt, sondern davon, wer sie sind.
Da wären wir bei den sozialen Medien - welche Rolle spielen die?
Soziale Medien schaffen eine Art Bühne. Jugendliche werden zu Managern ihres eigenen Images, oft schon mit zwölf oder 13 Jahren. Das führt zu ständiger Selbstbeobachtung, zu Vergleichen und zur Idealisierung anderer. Das Ergebnis ist häufig die Angst, nicht genug zu sein - und ein Verlust an Spontaneität und echter Authentizität. Diese Vergleiche können Essstörungen, soziale Ängste, Rückzug oder depressive Verstimmungen hervorrufen oder verstärken. Kaleido spricht sich für einen altersbegrenzten Zugang zu sozialen Medien und einen Ausbau der Medienbildung aus. Ungeachtet dessen ist es sehr wichtig, dass Jugendliche begleitet werden - von Eltern, Lehrkräften und Fachleuten - und dass sie lernen, kritisch hinzuschauen und sich selbst mit Wohlwollen zu begegnen. Mentale Gesundheit ist kein Luxus, sondern Voraussetzung dafür, dass junge Menschen sich entfalten können - und genau dabei möchten wir sie begleiten.
Radio-Interview mit Martine Engels im Player:
Dogan Malicki