"Ein unglaubliches Abenteuer", so bezeichnet Gilbert Perrin die Entwicklung der sogenannten "grünen Straßen" der Wallonie. Der ehemalige RTBF-Regisseur muss es wissen, denn er war von Anfang an Teil dieser Geschichte.
Das Abenteuer beginnt mit der 150-Jahr-Feier der belgischen Bahn 1985. Die RTBF sieht dazu ein Festprogramm vor, mit Sondersendungen und Reportagen zur Geschichte der SNCB. Gilbert Perrin ist dazu mit seinem Filmteam in der gesamten Wallonie unterwegs und merkt schnell, dass neben den aktiven Zugstrecken ein vergessener Schatz schlummert: Von rund 5.000 Kilometern Schienen bleiben 1985 nur noch ungefähr 3.400 übrig. 1.600 Kilometer Zugstrecke sind durch den Aufstieg des Autos überflüssig geworden.
Gilbert Perrin und sein Kamerateam machen es sich zur Aufgabe, diese Strecken zu dokumentieren und kontaktieren die SNCB, die ihnen Karten der ausrangierten Linien zur Verfügung stellt. "Wir haben alles gefilmt, was zu dem aufgegebenen Schienennetz gehörte, alte Signale, verlassene Bahnhöfe und so weiter. Das hat im Fernsehen wirklich gut funktioniert."
Durch die Reportagen entdecken die Zuschauer eine damals fast vergessene Welt. Diese Welt lässt auch Gilbert Perrin nicht mehr los. Ein paar Jahre später lässt er sich beurlauben und erkundet die aufgegebenen Strecken auf eigene Faust. Mehr als 1.000 Kilometer legt er zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurück und sieht, dass die Strecken zwar verlassen, aber dafür noch lange nicht unbrauchbar sind. "Es war unglaublich beeindruckend. Zwar waren einige Abschnitte völlig unpassierbar, aber meistens waren die Wege noch da. Ein bisschen dreckig und von Gras überwachsen, aber man konnte sie noch begehen."

Seine Erfahrungen beschreibt Perrin in einem Buch. Auch das wird ein Publikumshit und zieht vor allem Gleichgesinnte an. Sie wollen den Strecken neues Leben einhauchen und gründen die VoG "Chemins du rail" - übersetzt etwa "Wege de Schiene". Die zuständigen Politiker in Namur sind sich in dieser Zeit ebenfalls schon bewusst, dass ein Umstieg vom Auto auf nachhaltigere Transportmittel oft sinnvoll ist. 1995 gründen sie deshalb das Wegenetz Ravel.
Der Ravel ist mehr als nur ein Fahrradweg, denn hier sollen auch Wanderer, Reiter und Personen mit eingeschränkter Mobilität Platz finden. Eine sichere Infrastruktur abseits der Straßen, oft mitten im Grünen. Keine Rennstrecke für Leistungssportler, sondern ein Weg für alle, vom Kleinkind bis zum Großvater.
Die Vereinigung "Chemins du rail" arbeitet von Anfang an eng mit Politik und Verwaltung zusammen, um Strecken zu entwickeln und aufzuwerten. So wird 1996 der erste Abschnitt auf einer ehemaligen Bahnstrecke eingeweiht. Diese erste Strecke zwischen Rochefort und Villers-sur-Lesse bekommt dann schnell Gesellschaft.
Nur selten gibt es bei den Arbeiten Probleme. "Manche Leute hatten Angst, dass die Ravel-Nutzer ihren Gartenzaun zerstören und Obst und Gemüse klauen. Diese Kritiker haben oft ihren Gartenzaun erhöht, aber dann als erstes eine Tür eingebaut, um selbst bequem den Ravel nutzen zu können", bemerkt Perrin schmunzelnd.
Mittlerweile sind die Ravel-Strecken weithin akzeptiert. Viele Menschen nutzen sie in ihrer Freizeit oder im Alltag - Tendenz steigend. Innerhalb von 30 Jahren ist aus knapp 80 Kilometern "grünen Straßen" ein mehr als 1.500 Kilometer langes Wegenetz geworden, das Wohn-, Arbeits- und Freizeitorte miteinander verbindet.
Natürlich sind die Ravel-Strecken auch in den deutschsprachigen Gemeinden vertreten. Ganz besonders die Vennbahn-Strecke mit ihrer internationalen Ausstrahlungskraft zieht Einheimische und Touristen aus ganz Europa an. Mehr dazu am Freitag hier auf BRF.be.
Anne Kelleter