Die Sendereihe „50 Jahre Geschichte der Ostkantone“ war ein medialer Paukenschlag, der sich tief ins auditive Gedächtnis Ostbelgiens eingebrannt hat. Sie wurde in fünf Episoden vom Brüsseler Studio des Belgischen Hörfunks im Jahr 1972 ausgestrahlt.
Das über hundertseitige Sendemanuskript wurde von zahllosen Hörerinnen und Hörern begeistert nachgefragt. Urheber der Sendung waren zwei engagierte Hörfunkjournalisten, die mit der Sendung auch zeithistorisch neue Pfade betraten.
Wir möchten an die Pionierleistung von Hubert Jenniges und Peter Thomas erinnern. Gleichzeitig werden wir sie in den historischen Kontext ihrer Entstehung einbetten, d.h. in die sogenannte "heiße Phase" der Autonomiedebatte der späten 1960er und frühen 1970er Jahre.
Dieser Wirkung des Radios als Medium historischer Erzählung waren sich die beiden Macher von "50 Jahre Geschichte der Ostkantone" vollends bewusst. Gezielt mischten die beiden Hörfunkjournalisten eigene Interpretationen des Zeitgeschehens mit ko-produzierten Quellen. Zeitzeugeninterviews und Meinungen von Fachhistorikern wie Dr. Klaus Pabst oder Dr. Heinz Doepgen wurden schriftliche Quellen und Dokumente gegenübergestellt.
Heraus kam eine dichte Erzählung, die faktenbasierte Chronologie mit problemorientierter Hinterfragung von historischen Ereignissen kombinierte. Ein Beispiel dafür war die auch in den 1970er Jahren immer wieder diskutierte Frage der parlamentarischen Vertretung der deutschsprachigen Belgier, die im folgenden Auszug mit der Frage der administrativen Eingliederung Eupen-Malmedy-St. Viths in die Provinz Lüttich am Ende der Baltia-Zeit, also im Jahr 1925, verbunden wird:
Im Sinne einer "offenen Geschichte" präsentierten die Autoren unterschiedliche Perspektiven und kontroverse Meinungen, wie diese kurze Sequenz des ersten Teils der Sendereihe unter dem Titel "Der große Wandel" zeigt. In ihr ging es um die Frage der historischen Bewertung der Übergangsjahre zwischen 1920 und 1925:
Um die Wirkmächtigkeit der damaligen Sendereihe aus heutiger Sicht zu verstehen ist es notwendig, sie in den Kontext ihrer Entstehung und Rezeption einzubetten.
Der BHF als "Seismograph" und "Verstärker"
Schon unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs starteten im Funkhaus des Institut National de Radiodiffusion in Brüssel erste Radiosendungen in deutscher Sprache – die "émissions en langue allemande" (ELA). Angebot, Sendezeiten und technische Hilfsmittel blieben aber bis Anfang der 1960er sehr beschränkt. Die Programme waren nur begrenzt attraktiv für das ostbelgische Publikum: Das lag an der verordneten politischen Neutralität der Beiträge, den meist auf französischsprachige Nachrichtenquellen reduzierten "Informationsberichten", den ausgestrahlten Französischkursen sowie der Sendezeit zwischen 17:20 und 17:40 Uhr.
Mit der Ausdehnung der Sendezeit durch ein Abendprogramm, der Umstellung auf UKW und der Aufstellung eines Sendemastes in Recht im Jahre 1968 wurde die technisch-infrastrukturelle Grundlage für eine zunehmende Attraktivität des Belgischen Hörfunks (BHF) gelegt. Noch wichtiger aber war die personelle Aufstockung der Brüsseler Redaktion. 1969 wurden gleich drei neue Redakteure eingestellt, die als "junge Wilde" für frische Luft im ostbelgischen Äther sorgen sollten: Neben Hubert Jenniges, der bereits seit Jahren als "fester freier Mitarbeiter" beim BHF tätig war, traten auch Peter Thomas und Horst Schröder als Praktikanten/Referendare in den Dienst des deutschsprachigen Rundfunks und sorgten unter der wohlwollenden Aufsicht der Studioleiterin Irene Janetzky für frischen Wind in der Berichterstattung.
Durch zunehmende Live-Übertragungen und O-Ton-Aufnahme bemühte sich der BHF, ein lebendiges Instrument und Sprachrohr der politischen Umwälzungen in Belgien zu sein. Zeitgleich nahm die Debatte um die so genannte Kulturautonomie auch in Ostbelgien Fahrt auf. Bereits im September 1969 starteten Horst Schröder und Peter Thomas eine Sendereihe zum Thema Kulturautonomie.
Peter Thomas erinnert sich an Konflikte
In einem "Oral History"-Interview mit Andreas Fickers im Oktober 2012 erinnerte sich Peter Thomas lebhaft an diese Episode und die Konflikte, welche sie hervorrief – etwa mit dem Kollegen und erfahrenen Journalisten Kurt Grünebaum. Grünebaum, der seit den 1930er Jahren für den sozialistischen "Peuple" und das Grenz-Echo schrieb, war eine der prägenden Figuren der ostbelgischen Medienlandschaft. Er stand dem Zerfall des belgischen Einheitsstaates sehr skeptisch gegenüber.
"Damals lief ja auch die ganze Diskussion zwischen Flamen und Wallonen über die eigene Kulturautonomie, die 1970 in die Wege geleitet wurde. Da stellte sich für uns automatisch die Frage: Was macht man mit den Deutschsprachigen?", erinnert sich Peter Thomas.
"Wir haben diese Dinge ganz bewusst immer wieder zur Diskussion gebracht. Wir haben irgendwann systematisch alle belgischen Parteien befragt über ihre Vorstellungen, wie das mit den Deutschsprachigen in Ostbelgien weitergehen soll. Nicht nur die traditionellen Parteien, sprich Christlich-Soziale, Sozialisten und Liberale, sondern auch die anderen wie Volksunie, Kommunisten und so weiter."
"Ich erinnere mich noch, wie Kurt Grünebaum - der für uns eine wöchentliche Chronik der Inlandspolitik machte - ins Studio kommt. Zufällig lief an dem Tag ein Interview mit Wim Jorissen, Senator der Volksunie, flämischer Nationalist. Der haute natürlich gehörig auf die Pauke - sei es nur gewesen, um die Wallonen zu ärgern - und forderte volle Autonomie für die Deutschsprachigen. Kurt Grünebaum kommt ins Studio und hört das. Da war großes Theater, er bekam einen Tobsuchtsanfall, verließ das Studio und war nicht mehr in der Lage, noch ein Wort zu sagen."
"Nach fünf Minuten hatte er sich dann beruhigt und kam wieder in die Sendung. Aber er war besessen von dieser Angst: Da kommen irgendwelche Leute und könnten nationalistische oder an der Vergangenheit orientierte Überlegungen wieder salonfähig machen oder in die Diskussion bringen."
Zusammenspiel mit der Aachener Volkszeitung
Ab Ende der 1960er, vor allem Anfang der 1970er Jahre bringt sich der BHF immer stärker in die Berichterstattung über die Frage der Kulturautonomie ein und war somit nicht nur Spiegel, sondern proaktiver Begleiter dieser Debatte.
"Eine Strategie war es ganz gewiss nicht. Wir haben im Rundfunk nie Politik gemacht. Immer nach dem Motto von Hanns Joachim Friedrichs: Überall dabei sein, nirgendwo mitmachen. Das war keine Strategie, sondern etwas, was sich aus der Situation ergab", sagt Thomas.
"Die Sensibilität für diese Themen war da. Man sah, wie Flamen und Wallonen diskutierten und reagierten. Und man sah, dass man bei uns in Ostbelgien außerordentlich vorsichtig war. Es gab ja auch Politiker wie Willy Schyns. Wenn es um Autonomiefragen ging, hat er immer eine sehr reservierte Haltung eingenommen. Er hat Angst davor gehabt, dass man den RdK direkt wählen lassen könnte, weil er befürchtete, dass das populistisch ausgenutzt werden könnte oder was auch immer."
"Und wir hatten als freie Journalisten, die all diesen parteipolitischen Zwängen nicht ausgesetzt waren, mehr Möglichkeiten, da zu agieren. Und das haben wir systematisch ausgenutzt, ohne dass das eine Strategie gewesen wäre." Dabei, so Thomas, sei den BHF-Journalisten entgegengekommen, dass inzwischen in Ostbelgien eine Lokalredaktion der Aachener Volkszeitung (AVZ) gegründet wurde, mit Willy Timmermann und Hans-Werner Delhey.
"Wir hatten einen sehr intensiven Kontakt zu ihnen. Beispielsweise wurde diese Interviewserie mit den Politikern integral von der Aachener Volkszeitung übernommen. Bis auf eine Ausnahme: das Interview mit der kommunistischen Partei. Da hat sich dann die katholische Aachener Volkszeitung nicht dazu entschließen können, auch das abzudrucken. Es gab Grenzen", lacht Thomas.
Auch zeitgeschichtlich eine Pionierleistung
Auch wenn Peter Thomas es dezidiert ablehnt, von einer Strategie zur Instrumentalisierung des Rundfunks als Katalysator der Autonomiedebatte zu reden, so gesteht er dem BHF doch die Rolle eines Resonanzkörpers zu, der – durch das aktive Aufgreifen der aktuellen Fragestellungen und Themen in dieser Sache – eine Verstärkerfunktion ausgeübt habe.
Dieser Interpretation ist die regionale Geschichtsschreibung in den letzten Jahren mit den Arbeiten von Andreas Fickers und Vitus Sproten gefolgt. Die große mediale Aufmerksamkeit und Wirkung der Sendereihe "50 Jahre Geschichte der Ostkantone" und der ein Jahr später, am 27. Oktober 1973, ausgestrahlten Sendung "Der Weg der deutschen Sprachgemeinschaft zur Kulturautonomie" scheinen die These der Verstärkerfunktion des BHF in der heißen Phase der Autonomiedebatte zu bestätigen.
Beide Sendungen können als gelungene Beispiele für investigativen Journalismus gesehen werden, den man sich im aktuellen Programm des Belgischen Rundfunks durchaus häufiger wünschen würde.
Sie waren überdies Pionierleistungen regionaler Zeitgeschichtsschreibung. Bis in die 1990er Jahre blieben zeithistorische Themen in der Regionalgeschichte randständig – eine Folge einer durch Verdrängung und Vergessen dominierten Erinnerungspolitik der Nachkriegsjahrzehnte. Warum zeithistorische Fragen und Themen, die im Programm des BHF und BRF immer wieder präsent waren, von der schreibenden Zunft und in Geschichtspublikationen kaum aufgegriffen wurden, wäre ein spannendes Thema für zukünftige Forschungen.
Unbestritten ist, dass die beiden BHF-Journalisten Jenniges und Thomas mit ihren Beiträgen Anfang der 1970er Jahre mutig für einen kritischen und selbstbestimmten Umgang mit der sprachlichen Identität sowie der Geschichte der Ostbelgier eingetreten sind – und dies mit dem Bewusstsein, aktiv an der Gestaltung der Zukunft des Landes und der deutschsprachigen Region mitzuwirken. Es ist u.a. engagierten Menschen wie ihnen zu danken, dass es heute eine föderalstaatlich gefestigte "Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens" gibt, und wir nicht zu "Wallonen unter Wallonen" geworden sind.
Christoph Brüll/Andreas Fickers