"Zu unerfahren, zu ungeschickt, zu unsichtbar"… Hadja Lahbib muss am Dienstag zuweilen wirklich vernichtende Kritik über sich ergehen lassen. Ein "Leichtgewicht" sei sie, eine Figur mit so wenig Kragenweite, dass "die EU-Profis in Brüssel sie auf einen Cracker legen und als Amuse-Gueule verspeisen werden", schreibt sogar die Zeitung Het Nieuwsblad, die die Nominierung von Hadja Lahbib für den Posten der belgischen EU-Kommissarin obendrein als den "neuesten Belgierwitz" bezeichnet. Es ist lange her, dass eine Personalie einen derartigen Shitstorm losgetreten hat.
Das mag auch an den Begleitumständen liegen. Denn, die Entscheidung, wer denn nun der oder die nächste belgische Vertreterin in der EU-Kommission werden sollte, stand von Anfang an nicht unter dem besten Stern. Das Ganze wirkte so ein bisschen wie das Spiel mit der berühmten heißen Kartoffel: Die geschäftsführende Regierung überließ den Arizona-Partnern die Entscheidung; das war freilich nur fair, denn diese fünf Parteien werden voraussichtlich in den nächsten Jahren das Sagen haben. Nur schien man sich hier auch nicht wirklich um den Posten zu prügeln: Erst am vergangenen Donnerstag kam die Personalie auf den Tisch. Das war einen Tag vor Ablauf der Frist, die die alte und neue Kommissionsvorsitzende Ursula von der Leyen den EU-Staaten gesetzt hatte.
Die flämischen Parteien - N-VA, Vooruit und CD&V - machten sofort klar, dass sie nicht interessiert waren. Also mussten MR und Les Engagés die Entscheidung unter sich ausmachen. Am Ende einigte man sich darauf, dass der Posten der MR zufallen sollte. Schließlich ist der amtierende EU-Kommissar Didier Reynders auch ein frankophoner Liberaler. Reynders war im Übrigen auch Kandidat für seine eigene Nachfolge. Irgendwie schien das Drehbuch schon geschrieben zu sein, dann machte es MR-Chef Georges-Louis Bouchez plötzlich doch nochmal spannend. Die Entscheidung ließ auf sich warten, die Frist verstrich, nach dem Wochenende war immer noch kein Kandidat nominiert. Am Montag kam der Paukenschlag: Nicht Didier Reynders, sondern die amtierende Außenministerin Hadja Lahbib soll die neue belgische EU-Kommissarin werden.
Verweiblichung und Erneuerung
Er habe sich für Verweiblichung und Erneuerung entschieden, begründete Bouchez den Schritt. Die Kommissionsvorsitzende von der Leyen habe schließlich Geschlechterparität als Ziel ausgegeben und eine gewisse Verjüngung. Auf der anderen Seite verfügte Didier Reynders natürlich auch über die nötigen Qualitäten. Insgesamt eine sehr komplizierte Entscheidung - so etwas kann manchmal schmerzhaft sein, sagte Bouchez in der RTBF.
Kritiker werfen Bouchez vor, dass die Entscheidung noch dazu falsch war. Sie verweisen dabei auf den bisherigen Werdegang von Hadja Lahbib. Die 54-Jährige verfügt über wenig politische Erfahrung. Vor zwei Jahren war sie noch Fernsehjournalistin. Bis der MR-Chef sie aus dem nichts zur Außenministerin bombardierte, als Nachfolgerin von Sophie Wilmès, die aus persönlichen Gründen ausgeschieden war. Als Chefdiplomatin machte die Quereinsteigerin nicht die beste Figur. Schon ihr Einstieg war unglücklich: Es stellte sich heraus, dass sie -noch in ihrer Zeit als Journalistin- auf der damals schon von Russland annektierten Krim einem Kulturfestival beigewohnt hatte - mit einem russischen Visum. Für die Ukraine ein Affront. Als Außenministerin geriet sie vor allem in die Kritik wegen der Visaaffäre, als der Teheraner Bürgermeister in Brüssel war dank einer von ihren Diensten ausgestellten Einreiseerlaubnis.
Georges-Louis Bouchez verweist seinerseits auf die Erfahrungen, die Lahbib in ihrer kurzen Amtszeit sammeln konnte: Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen, die Befreiung von Olivier Vandecasteele aus iranischer Haft. Als Außenministerin habe sie doch schon alles gesehen. Weil die Kommissionsvorsitzende so sehr auf Geschlechterparität habe hinarbeiten wolle, werde Belgien auch eine einflussreiche Zuständigkeit bekommen, verspricht Bouchez, der aber nicht mehr verraten will.
Lahbib wird schon bald die Möglichkeit bekommen, ihre Kritiker Lügen zu strafen. Jeder Kommissar muss sich zu Beginn seiner Amtszeit den EU-Abgeordneten stellen, die den oder die Kandidatin einer wirklichen "Aufnahmeprüfung" unterziehen. Dann wird Lahbib die Möglichkeit bekommen, zu beweisen, dass sie tatsächlich über die nötige Kragenweite verfügt.
Roger Pint