2,1 Prozent aller belgischen Kinder zwischen sechs und 17 Jahren nehmen Medikamente gegen ADHS. Zu den bekanntesten Mitteln gehören dabei Ritalin (auch als Rilatine bekannt) und Concerta. Dieser Anteil ist auch relativ stabil, seit 2014 hat sich der Konsum nicht erhöht.
Es handelt sich dabei um den Landesdurchschnitt. Wie aus einer neuen Untersuchung der Krankenkassen hervorgeht, verteilt sich das regional betrachtet nämlich sehr unterschiedlich. In Flandern bekommen demnach 2,9 Prozent der Kinder und Jugendlichen Medikamente gegen ADHS. In der Wallonie sind es hingegen nur 1,1 Prozent und in der Region Brüssel-Hauptstadt sogar nur 0,7 Prozent.
Anders gesagt: Flämische Kinder schlucken fast drei Mal häufiger Ritalin und Co. als wallonische und Brüsseler Kinder. Ein Befund, der durchaus Fragen aufwirft.
Auf der Basis von Analysen gehe man davon aus, dass etwa fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen den Kriterien für ADHS genügten, sagte die Kinder- und Jugendpsychiaterin Karen Vertessen vom Universitätskrankenhaus Löwen in der VRT. Statistisch und global betrachtet hat also jedes 20. Kind eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung.
"Jetzt wird natürlich erstens nicht jeder Fall von ADHS auch erkannt und zweitens bekommt auch nicht jedes Kind mit einer entsprechenden Diagnose auch gleich Medikamente dagegen", so Vertessen. Aber insgesamt hält sie es für realistisch und akzeptabel, dass drei Prozent der flämischen Kinder eben Ritalin, Concerta oder ein anderes Mittel bekommen.
ADHS unterdiagnostiziert
Vertessen sieht das Problem bei den anderen Landesteilen. In Brüssel etwa liege die Zahl der Kinder, die ADHS-Medikamente bekämen, weit unter dem zu erwartenden Wert. Das könne darauf hindeuten, dass in der Hauptstadtregion die Behandlung von ADHS-Kindern vernachlässigt werde und sie eben deshalb weniger häufig Medikamente verschrieben bekämen, die ihr Leben positiv verbessern könnten. Das gelte auch für die Wallonie, wenn auch etwas weniger stark ausgeprägt.
Dieser Interpretation schließt sich auch die Kinderpsychiaterin Christine Canseliet vom Krankenhaus Saint-Pierre in Ottignies an. Und sie ist nicht die Einzige, in der Zeitung De Standaard äußern sich auch andere Experten in diese Richtung. Ihrer Meinung nach werde ADHS in der Wallonie noch immer unterdiagnostiziert, so Canseliet im Interview mit der RTBF.
Das flämische Gesundheitssystem sei oft besser organisiert als seine Gegenstücke im Süden des Landes. Das führe dazu, dass beispielsweise ADHS früher und besser erkannt werden könne. In ihrer Praxis landeten Kinder oft erst, wenn sämtliche anderen Optionen ausgeschöpft worden seien, beklagt die Kinderpsychiaterin. Wenn Eltern und Schulen nicht mehr könnten und die Kinder drohten, aus dem regulären Schulsystem zu fliegen.
Im frankophonen System gebe es die bedauernswerte Tendenz, erst im Umfeld des Kindes ausführlich nach möglichen Ursachen zu suchen, so Canseliet weiter. Das könne, falls es sich wirklich um ADHS handele, die korrekte Behandlung unnötig verzögern. Und damit tue man niemandem einen Gefallen - weder den Kindern, noch den Eltern, noch den Schulen.
Der auf ADHS bei Erwachsenen spezialisierte Neurologe Philippe Violon spricht in De Standaard sogar von "verlorenen Jahren". Auch er betont, wie wichtig die frühe und korrekte Diagnose und gegebenenfalls medikamentöse Behandlung sein kann. Das könne dabei helfen, ADHS-Patienten unter Umständen das Funktionieren im Alltag und damit das Leben deutlich zu vereinfachen.
Boris Schmidt