"Eine solche Krise gab es so noch nie in der flämischen Politik" - Jeremie Vaneeckhout, der Co-Vorsitzende der flämischen Grünen, spricht das aus, wovon auch viele unabhängige Beobachter überzeugt sind: Die flämische Regierung steht am Rande des Abgrunds.
Schuld ist ein altbekanntes Problem: In Flandern wird zu viel Stickstoff ausgestoßen. Deswegen hat auch die EU-Kommission der Region schon mehrmals nachdrücklich auf die Finger geklopft. Vor ziemlich genau zwei Jahren, Ende Februar 2021, wurde das Eisen wirklich heiß, und zwar mit dem sogenannten "Stickstoff-Entscheid". Damals kassierte ein Gericht zum ersten Mal die Baugenehmigung eines landwirtschaftlichen Betriebs, weil der nach seiner geplanten Vergrößerung zu viel Stickstoff ausgestoßen hätte.
Die flämische Regierung wusste: Wenn sie eine Kaskade solcher Urteile verhindern wollte, dann musste sie schnellstens eine neue Stickstoff-Verordnung vorlegen, um Rechtssicherheit zu schaffen. Zwar ist es nicht nur die Landwirtschaft, die durch große Mastbetriebe und massive Düngung für den Ausstoß von Stickstoff verantwortlich ist. Doch gilt der Agrarsektor gerade auf dem Land doch als einer der Hauptverursacher.
Ziemlich genau ein Jahr später lag ein erster Entwurf auf dem Tisch. Der umfasste unter anderem eine "Rote Liste" von 41 landwirtschaftlichen Betrieben, die bis 2025 schließen mussten, weil sie zu nah an Naturschutzgebieten liegen. Und dann noch eine ganze Reihe anderer strenger Auflagen. Daraufhin gingen die Landwirte auf die Barrikaden.
Um die Wogen zu glätten, organisierte die flämische Regierung eine Sektorbefragung, bei der jeder seine Bemerkungen und Einwände zum Ausdruck bringen konnte. Auf dieser Grundlage wagte die flämische Regierung dann Ende vergangenen Jahres einen zweiten Anlauf. Doch schnell wurde deutlich, dass einer der Koalitionspartner nicht mehr mitspielte: die flämischen Christdemokraten (CD&V), die sich seit jeher auch als die Partei der Landwirte betrachten und die dem mächtigen Boerenbond nach wie vor sehr nahestehen.
CD&V gegen N-VA und OpenVLD
Die CD&V will sichtbar ihr Profil schärfen, und das spätestens seit Mitte 2022, seit Sammy Mahdi den Parteivorsitz übernommen hat. Mahdi lässt seine Partei die Zähne zeigen. Und die Stickstoff-Problematik wurde zu einem seiner bevorzugten Schlachtfelder. Was dazu führte, dass sich die Akte zusehends festfuhr.
Kurz vor Karneval erreichte der Streit seinen Höhepunkt. Der flämische Ministerpräsident Jan Jambon konnte nur feststellen, dass sich seine Koalition in ein Patt manövriert hatte. Er musste sogar ein Treffen der Vorsitzenden der drei Mehrheitsparteien einberufen. Das brachte aber auch nicht die erhoffte Erlösung.
Die Fronten blieben verhärtet. "Naja, es ist eben politisch wie auch technisch eine komplizierte Akte", sagte Jambon am Karnevalsfreitag, vor knapp zehn Tagen. "Deswegen nutzen wir jetzt die Karnevalsferien, um das Ganze nochmal reifen zu lassen. Und in der Woche nach den Ferien werden wir dann ein Abkommen schmieden."
Besagte "Woche nach den Krokusferien" ist inzwischen schon zwei Tage alt. Entschärft werden konnte die Bombe aber nicht. Die beiden Lager stehen sich nach wie vor unversöhnlich gegenüber: N-VA und OpenVLD auf der einen und die CD&V auf der anderen Seite.
Vooruit bietet Wechselmehrheit an
Die oppositionellen flämischen Sozialisten Vooruit ließen es sich nicht nehmen, der Regierung hier noch ein vergiftetes Geschenk anzubieten: "Also, wir sind prinzipiell für den Ansatz der N-VA-Umweltministerin Zuhal Demir", sagte der Vooruit-Vorsitzende Conner Rousseau. "Und wir würden im Parlament diese Pläne unterstützen und dafür stimmen."
Das wäre also eine Wechselmehrheit: Die Koalition stimmt uneinheitlich und der zur Abstimmung stehende Text kann nur mit Hilfe einer Oppositionsfraktion verabschiedet werden. Gerade in einer Akte von einer solchen Tragweite wäre das gleichbedeutend mit dem Ende der Koalition. Neuwahlen sind allerdings auf Teilstaaten-Ebene nicht möglich. Das würde bedeuten, dass sich Ministerpräsident Jan Jambon mit seiner zerdepperten Mehrheit noch bis zu den Wahlen im nächsten Jahr schleppen müsste.
Aber die "Woche der Wahrheit" ist ja noch nicht vorbei. Vielleicht tut sich ja in den nächsten Tagen doch noch eine ungeahnte Schnittmenge auf. Das Vertrauen innerhalb der Koalition dürfte aber schon jetzt arg gelitten haben.
Roger Pint