Die "Corona-Zeit" hat Politik und Gesellschaft auf eine harte Probe gestellt. Viel ist diskutiert, debattiert und gestritten worden. Haben die Regierungen des Landes schnell und effizient genug auf die Pandemie reagiert? War das Land gut aufgestellt? Hätten die vielen Todesopfer nicht verhindert werden können?
Aber dann wurde auch schnell die Frage nach der Verhältnismäßigkeit aufgeworfen: Ist man nicht zuweilen über das Ziel hinausgeschossen? Waren alle Maßnahmen, vor allem die harten Lockdowns oder die Schulschließungen, wirklich nötig? Wurden nicht auf dem Altar der Pandemie-Bekämpfung mitunter sogar die Grundrechte geopfert?
Diese Diskussion ist bis heute nicht abgeschlossen. Klar: Im Nachhinein ist man immer schlauer. Und man dürfe nie vergessen, dass viele Entscheidungen "im Eifer des Gefechts" getroffen werden mussten, in Momenten, in denen selbst die Wissenschaft noch kein eindeutiges Bild von der Lage hatte, zitiert die Zeitung De Standaard aus einem Brief des föderalen Gesundheitsministers Frank Vandenbroucke. Was aber nicht heiße, dass man nicht doch einmal gründlich Bilanz ziehen sollte. Jetzt, da auch die achte Corona-Welle sich als überschaubar zu erweisen scheine, sei wohl auch der richtige Zeitpunkt gekommen, um die Aufarbeitung in Angriff zu nehmen.
"Externe" Einrichtung
Diese Bewertung will man nicht selber vornehmen. Um ein möglichst objektives Urteil zu bekommen, hat sich die Regierung vielmehr dazu entschlossen, eine externe Einrichtung mit dieser Prüfung zu betrauen. Und nicht irgendeine Einrichtung: Wie De Standaard berichtet, hätten Premierminister Alexander De Croo, Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke und Innenministerin Annelies Verlinden entschieden, die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, mit diesem Audit zu betrauen.
"Wir möchten, dass die OECD alle Facetten der belgischen Corona-Politik einmal unter die Lupe nimmt", sagte Frank Vandenbroucke am Donnerstagmorgen in der VRT - sowohl das strikt gesundheitspolitische Kapitel als auch die wirtschaftliche Erholung nach dem Ende der heißen Phase der Pandemie. "Es geht um Fragen wie: Waren wir ausreichend vorbereitet? Wie war das Krisenmanagement damals in diesen Zeiten großer Unsicherheit? Eine breite Untersuchung also. Nicht untersuchen, um zu untersuchen, sondern um die Lehren daraus zu ziehen", betont der Gesundheitsminister.
Petition
"Die Lehren für die Zukunft ziehen", das klingt natürlich legitim, eine solche Aufarbeitung ist aber nicht ohne Risiko. Das gilt nicht unbedingt für die Politik, sondern vor allem für die diversen wissenschaftlichen Beratergremien, die den Regierungen Handlungsempfehlungen an die Hand gegeben hatten. Für sie kann sich das Ganze schnell wie ein Tribunal anfühlen. In den letzten Wochen war die Kritik an den Fachleuten noch einmal besonders laut geworden. Seit Mitte September kursiert eine Petition mit dem Titel "#EvaluatieNu/#EvaluationMaintenant". Die Unterzeichner fordern darin eben eine Aufarbeitung und Bewertung der Corona-Politik. Unter den Initiatoren der Petition sind nur ganz vereinzelt bekannte "Querdenker". Es sind vielmehr größtenteils angesehene Hochschuldozenten: Mediziner, aber auch Juristen und Politikwissenschaftler. Sie stellen sich dieselben Fragen: Waren die Maßnahmen angemessen? Und waren sie verhältnismäßig? Dabei ist es nicht so, dass die Initiatoren der Petition die Antworten vorwegnehmen. Sie beklagen nur, dass es eben diese Antworten im Moment nicht gibt und verlangen, dass man jetzt endlich mal Bilanz zieht.
Frank Vandenbroucke betont seinerseits, dass seine Initiative in keiner Weise eine Reaktion auf diese Petition sei. Dass man irgendwann eine Untersuchung und Bewertung der Corona-Politik vornehmen müsse, darauf könne man auch selber kommen. Die OECD verfüge da auch schon über die passenden Instrumente: Eine Methode, die es ermögliche, eine Politik objektiv zu bewerten und international zu vergleichen. Als erstes Land wurde bereits Luxemburg einer solchen Prüfung unterzogen. Ziel ist es, dass man auf der Grundlage internationaler Vergleiche einen "Musterbaukasten" ausarbeitet, als Entscheidungshilfe für vergleichbare Krisen in der Zukunft. Die Ergebnisse des Audits werden im Laufe des kommenden Jahres erwartet.
Roger Pint