"Hunderttausende Impfstoffe für die Mülltonne", so die aufsehenerregende Überschrift am Montag in der Zeitung Le Soir. Dabei geht es um 1,3 Millionen Vakzindosen gegen Covid-19, deren Haltbarkeitsdatum in den nächsten Wochen und Monaten ablaufen wird.
Zunächst sind davon Ende Mai über 436.000 Dosen Astrazeneca betroffen. Gefolgt von 90.000 Dosen Pfizer und 790.000 Moderna im Juli. Die VRT meldet, dass Ende August auch 422.000 Dosen von Novavax ablaufen sollen. Insgesamt wären damit also sogar 1,7 Millionen Dosen betroffen.
Europäisches Phänomen
Die Frage liegt nahe, was hier also schiefgelaufen ist. Dazu sollte man zunächst eines festhalten, wie Dirk Ramaekers von der föderalen Impf-Taskforce gegenüber der VRT erklärte: Was in Belgien passiere, spiele sich in ganz Europa ab. Frankreich etwa hat bereits im vergangenen Monat sogar 3,6 Millionen Impfstoffdosen vernichten lassen. In Deutschland soll Ende Juni drei Millionen Dosen das gleiche Schicksal drohen, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Die Gründe sind im Prinzip immer die gleichen: Impfstoffe sind Arzneimittel und können als solche nach einer gewissen Zeit ihre Wirksamkeit verlieren. Ihr Haltbarkeitsdatum beträgt deshalb je nach Typ zwischen sechs und zwölf Monaten, wie Sabine Stordeur von der Taskforce in der RTBF erläuterte.
Nach den geltenden pharmazeutischen Normen müssen Vakzine vernichtet werden, sobald sie dieses Datum überschritten haben.
Belgien wollte sich gut rüsten
Den Vorwurf der Fehlberechnung bei den tatsächlich benötigten Impfstoffmengen weist Stordeur in diesem Zusammenhang entschieden zurück: Man habe ausreichend Vakzine geordert, um eine Drei-Dosen-Kampagne für rund 9,5 Millionen Einwohner Belgiens durchführen zu können.
Das Problem ist aber, dass über eine Million Erwachsene nicht mehr für ihre erste Booster-Impfung aufgetaucht sind. Die epidemiologische Lage hat sich bekanntermaßen auch schnell verbessert, die nationale Nachfrage ist in der Folge stark zurückgegangen.
Und es gibt noch einen weiteren Faktor: Belgien wollte es besonders gut tun, so Dirk Ramaekers: Man habe auf mehrere verschiedene Impfstoffe gesetzt, um möglichst gut gerüstet zu sein. Dass sich das Land also nicht von der Wirksamkeit und Lieferbarkeit eines einzigen Produktes abhängig machen wollte für den Fall der Fälle und eine strategische Reserve angelegt hat, das rächt sich jetzt in gewisser Weise.
Eine Möglichkeit, um Impfstoffe vor dem Verfall zu retten ist übrigens die Covax-Initiative. Belgien hat darüber in der Vergangenheit 13 Millionen Dosen für ärmere Länder gespendet und so zumindest teilweise auch vor der Vernichtung bewahrt.
Globales Überangebot
Wobei die korrekte Formulierung ist: Covax war eine Möglichkeit. Seit Beginn des Jahres sei es viel schwieriger geworden, über Covax Impfstoffe zu verwerten, so Ramaekers.
Zum einen sei das Interesse an Impfstoffen in den Entwicklungsländern gesunken. Zum anderen sei es organisatorisch sehr schwierig, die Vakzine überhaupt dorthin zu bekommen, wo sie verabreicht werden sollten.
Anders gesagt: Es gibt aktuell fast schon global ein so großes Überangebot, dass Covax kaum noch Vakzin-Spenden annimmt. Dennoch versuche Belgien alles, um möglichst viele Dosen noch über die Initiative oder andere Wege in bedürftige Länder zu bekommen, heißt es aus der Taskforce weiter.
Belgien hat mittlerweile aber mit Pfizer ausgehandelt, dass weitere Bestellungen aufgeschoben werden. Im Sommer wird es keine neuen Lieferungen geben, erst ab September wieder.
Wenn im Herbst die Impfkampagne für die zweite Booster-Impfung anlaufe, dann brauche Belgien frische und vor allem angepasste Impfstoffe, so Sabine Stordeur. Angepasst nämlich an die Omikronvariante. Diese Modifikation der Vakzine ist in Arbeit, sie braucht aber noch eine Zulassung - unter anderem von der Europäischen Arzneimittelagentur EMA.
Boris Schmidt
Laut dem COVID-19 - BULLETIN EPIDEMIOLOGIQUE HEBDOMADAIRE vom 19. Mai 2022 wurden im Zeitraum vom 2. bis zum 15. Mai 2022 belgienweit von den 7.2 Millionen Geboosterten insgesamt 1032 hospitalisiert (davon 134 auf Intensivstation), von den 2 Millionen Doppeltgeimpften 273 (davon 35 auf Intensivstation) und von den 2,4 Millionen Ungeimpften lediglich 261 hospitalisiert (davon 23 auf Intensivstation).
Daraus ergibt sich eine alle Altersgruppen umfassende Hospitalisierungs-Inzidenz von insgesamt 14,5 Aufnahmen (davon 1,9 auf Intensiv) pro 100.000 Geboosterte, 13.6 Aufnahmen (davon 1,7 auf Intensiv) pro 100.000 Doppeltgeimpfte (ohne Boosterung) und 11.7 Aufnahmen (davon 0,9 auf Intensiv) pro 100.000 Ungeimpfter.
Wie man leicht sehen kann, sind derzeit die Ungeimpften am wenigsten gefährdet, wegen Corona hospitalisiert zu werden. Es ist wirklich erstaunlich, dass diese doch überraschenden Zahlen meines Wissens mit keinem Wort in den Haupt-Medien thematisiert werden. Diese Information wäre doch wohl mindestens so bedeutsam, wie die Anzahl der verfallenden Impfdosen.
Herr Schmitz,
sie wissen ganz genau, dass ältere Personen und vorerkrankte Personen überproportional oft geimpft bzw. geboostert sind.
Diese Personen kommen trotz Impfung überproportional oft ins Krankenhaus (bzw. Intensivstation) als junge, nicht vorerkrankte und nicht geimpfte Personen. Hier Analyse hat große Schwächen.
Ihre Desinformation machen sie in meinen Augen absichtlich.
Sehr geehrter Herr Maraite,
Meine Analyse bezieht sich auf Inzidenzen (Ereignisse pro Einwohnerzahl). Aber schauen wir uns die fraglichen Zahlen mal etwas genauer, z.B. für die Altersgruppe 65 bis 84 Jahren an, in welcher 89% geboostert und lediglich 5% nur doppelt geimpft sind. Die 14-Tage-Hospitalisierungsinzidenzen pro 100.000 nach Impfstatus sind folgende (Werte für intensiv betreute Patienten in Klammern):
27 Hospitalisierungen (davon 5 auf Intensiv) wegen Covid-19 während 14 Tagen pro 100.000 Geboosterte,
105 (23) Doppeltgeimpfte,
34 (11) Ungeimpfte.
Auffällig ist die Verschlechterung im Falle der nur doppelt Geimpften gegenüber den Ungeimpften.
Da diese Zahlen ein und dieselbe Altersgruppe betreffen, fällt Ihr Argument der altersbezogenen Überproportionalität schon mal weg. Ob nun die Geimpften/Geboosterten überproportional an Vorerkrankungen litten, vermag ich nicht zu beurteilen. Da wissen Sie mehr als ich. Übrigens war diese oben beschriebene Tendenz schon vor mehreren Wochen zu erkennen. Ich hatte Sciensano um einer Erklärung gebeten, aber keine Antwort erhalten.