Es gibt sehr viele verschiedene Social-Media-Plattformen. Eine der bekanntesten ist "Telegram". Dieser kostenlose Instant-Messaging-Dienst ist seit geraumer Zeit am Wachsen und zählt längst zu den großen Spielern in der Branche. Aber er ist aufgrund seines laxen Umgangs mit potenziell problematischen Inhalten auch schon lange eine Art Zufluchtsort für Personen, Organisationen und Gruppen, die wegen ihres Verhaltens von anderen Plattformen verbannt worden sind. Dazu zählen beispielsweise diverse Elemente des rechtsextremen Spektrums, aber auch nicht zwangsweise rechte Verschwörungstheoretiker.
Forscher der Freien Universität Brüssel (VUB) beobachten gemeinsam mit der in Brüssel registrierten Nichtregierungsorganisation "EU DisinfoLab" 225 dieser öffentlich zugänglichen Telegram-Kanäle, über die oft Falschinformationen und/oder Propaganda verbreitet werden. Es handelt sich um zumeist niederländischsprachige Kanäle aus Belgien oder den Niederlanden.
Sie hätten auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie damit begonnen, die entsprechenden Daten zu sammeln, so Tom Willaerts bei Radio Eén. Er forscht an der Freien Universität Brüssel über digitale Methoden. Die Daten aus den belgo-niederländischen Telegram-Kanälen seien nicht einzigartig. Vielmehr deckten sie sich mit den Erkenntnissen internationaler Untersuchungen, die festgestellten Trends seien global vergleichbar.
Nazismus
Sehr schnell - eigentlich schon im Februar - seien in den ursprünglich von den "Corona-Skeptikern" bevölkerten Telegram-Kanälen Meldungen zum Ukraine-Krieg aufgetaucht. Die Forscher hätten daraufhin damit begonnen, nach Trends, wiederkehrenden Motiven, Narrativen und Parallelen zu suchen. Dabei habe man festgestellt, dass ein immer wiederkehrendes Motiv das des Nazismus sei, also Vergleiche mit dem totalitären Regime des Nationalsozialismus.
Bei der Pandemie seien etwa häufig der Coronapass oder andere Maßnahmen als Nazi-Instrumente oder -Methoden bezeichnet worden, während die Ukraine jetzt angeblich durch die Russen "denazifiziert" werden müsse. Es ist also die Rückkehr eines sehr ähnlichen Narrativs, um einen ganz anderen Kontext zu beschreiben.
Ein anderes frappierendes Beispiel seien die in beiden Fällen auftauchenden Narrative über biologische Labore beziehungsweise Biowissenschaftler, so Willaerts: Bei Corona im Kontext vom angeblich im Biolabor gezüchteten Coronavirus, jetzt im Krieg als angebliche amerikanische Biowaffenlabore in der Ukraine, die die Russen unter anderem als Rechtfertigung für ihren Angriffskrieg anführten.
Wiedererkennungswert
In beiden Fällen sehe man also, wie bekannte Motive "recycelt" würden. Das verfinge dann auch schneller bei den Adressaten auf Telegram, denn das zugrundeliegende Narrativ sei schon bekannt und komme lediglich mit einem neuen Anstrich daher. Der Wiedererkennungswert sei also ein wichtiger Faktor.
Generell spielten natürlich auch ein tief verankertes Anti-Obrigkeitsdenken, also Argwohn, Misstrauen oder Ablehnung von Behörden und anderen Autoritäten, eine große Rolle. Dieses Grundgefühl sei beim einschlägigen Publikum oft ausgeprägt, deswegen bedienten Narrative auch die Bereitschaft, besonders auf Informationen anzuspringen, die denen der "Obrigkeit" widersprächen.
Die Frage, warum das so sei, ist hochinteressant, aber im Augenblick sehr schwierig abschließend zu beantworten. Eine Sichtweise sei, dass viele Menschen in einer doch oft sehr chaotisch scheinenden Welt ein Bedürfnis nach Ordnung hätten. Sie versuchten, Verbindungen zwischen Ereignissen herzustellen, die eigentlich nichts miteinander zu tun hätten - Sinngebungsversuche in einer sich stark verändernden Welt also.
Sowohl Pandemien als auch Kriege gehörten natürlich genau zu der Art von welterschütternden und polarisierenden Ereignissen, die die Menschen dann versuchten, in ihre Sicht der Welt einzuordnen.
Boris Schmidt