Zahlen sprechen nicht immer für sich. Es ist so: Seit einigen Tagen ist es möglich, die Impfquote je nach Region aufzudröseln, sogar je nach Gemeinde. Es sind diese Zahlen, vor allem aus der Region Brüssel, die die flämische Regierung wohl dazu gebracht haben, über Lockerungen "nach Region" nachzudenken. Denn in Flandern haben bislang 30 Prozent der Bürger eine Corona-Impfung erhalten, in der Wallonie sind es 29 Prozent, in Brüssel hingegen nur knapp 23 Prozent.
Wie ist dieser große Unterschied zu erklären? "Nun, ganz einfach", sagte der zuständige Brüsseler Regionalminister Alain Maron in der RTBF. In der Region Brüssel wurden sehr viele Menschen geimpft, die gar nicht in der Hauptstadt ansässig sind. Das gilt erstmal für die Mitarbeiter von internationalen Institutionen wie der EU. Die Menschen leben zwar in Brüssel, ihr Erstwohnsitz ist aber oft anderswo.
Pflegepersonal
Eine noch viel größere Gruppe ist das Pflegepersonal. Die Hälfte der Beschäftigten in den Brüsseler Krankenhäusern wohnt nicht in Brüssel. Geimpft wurden sie dennoch in der Hauptstadt. Gleiches gilt für viele Mitarbeiter der Wohn- und Pflegezentren oder aus dem Sozialsektor. Insgesamt sprechen wir hier von 65.000 Impfdosen, sagt Regionalminister Alain Maron.
65.000 Impfdosen, das entspricht in etwa einem Fünftel der Chargen, die der Region Brüssel bislang zugeteilt wurden. Das ist auch ein nennenswerter Faktor. Und indem man Bürger aus Flandern und der Wallonie geimpft hat, hat man die Impf-Statistik dieser Regionen noch verbessert, weil Sciensano eben die Geimpften ihrem Wohnsitz zuordnet und nicht dem Ort, wo sie geimpft wurden.
Impfbereitschaft
Im Grunde zeige das nur, wie absurd, um nicht zu sagen unaufrichtig der "Wettbewerb" ist, den die flämische Regierung da offensichtlich vom Zaun brechen will, schrieb am Dienstag denn auch schon sinngemäß die Zeitung Le Soir. Was nicht heißen soll, dass es in Brüssel nicht doch ein Problem gäbe, räumte Alain Maron in der RTBF freimütig ein. In den Priorisierungsgruppen, also vor allem bei den älteren Menschen, kann man durchaus feststellen, dass die Impfquote in Flandern wesentlich höher liegt als in Brüssel.
In Flandern ist die Impfquote wirklich außergewöhnlich gut: Dort haben sich bis zu 95 Prozent der Über-75-Jährigen impfen lassen. In Brüssel sind es gerade mal 70 Prozent. Die Wallonie bewegt sich übrigens bei um die 75 Prozent.
Der Grund: Es gibt das Phänomen der Impfgegner und das ist im frankophonen Landesteil ausgeprägter als in Flandern. Das sei aber längst nicht die einzige Erklärung, sagte Céline Nieuwenhuys, Generalsekretärin des Verbandes der privaten Sozialdienstleister, FdSS, in der RTBF.
Soziale Unterschiede
"Wir sehen hier auch einen direkten Zusammenhang mit der sozialen Situation der Betroffenen. In gewissen Bevölkerungsgruppen ist die 'digitale Kompetenz' sehr dürftig. Die Menschen haben oft keinen Zugang zum Internet.", so Nieuwenhuys.
Hinzu kommen Verständnisprobleme. Die Sozialdienste und auch die Ärztehäuser berichten von sehr vielen Menschen, die mit der Impfeinladung vorstellig werden und nicht wissen, was sie damit anstellen sollen.
Diese Probleme werden regelrecht sichtbar, wenn man sich die Impfquote in Brüssel je nach Gemeinde anschaut. Beispiel: In Woluwe-Saint-Pierre, in Watermael-Boitsford oder in Auderghem haben 80 Prozent der Über-65-Jährigen mindestens eine Impfdosis erhalten. In Saint-Josse ist es gerade mal die Hälfte.
Im Großen und Ganzen kann man sagen: Die Impfquote ist gut im Osten und im Süden der Hauptstadt. Und genau dort wohnen - nicht ganz zufällig - auch die finanziell besser gestellten Bevölkerungsgruppen.
Neben den Lebensumständen spielen auch andere Faktoren eine Rolle. So ist es zum Beispiel so, dass innerhalb der türkischstämmigen Gemeinschaft sechs von zehn Menschen der Impfung skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Und auch der Fastenmonat Ramadan sorgt dafür, dass die muslimischen Bürger, zumindest im Moment, nicht unbedingt gleich an die Impfung denken.
Die Brüsseler Verantwortlichen arbeiten jedenfalls unter Hochdruck an dem Problem. Man setze alle Hebel in Bewegung, um auf die Menschen und auf die verschiedenen Gemeinschaften zuzugehen, sie direkt anzusprechen und zu sensibilisieren, sagt Alain Maron.
Roger Pint