"Impfungen - Das geht einfach nicht vorwärts", titelt am Dienstag anklagend La Dernière Heure. Und die Zeitung bringt damit wohl einen weitverbreiteten Frust auf den Punkt. Zumal inzwischen klar ist, dass der Fehler nicht nur bei den Herstellern zu suchen ist. Immer wieder berichtet die Presse über große Mengen von Impfdosen, die ungenutzt in Kühlschränken liegen.
Die politisch Verantwortlichen werden sichtbar nervös. Sie wissen, dass sie im Moment viel zu verlieren haben, angefangen bei ihrer Glaubwürdigkeit. Der föderale Gesundheitsminister hat sich an den Hohen Gesundheitsrat und an die Impf-Taskforce gewandt, und zwar mit drei Fragen.
Erstens: Kann man die notwendige zweite Impfung bei den Präparaten von Pfizer und Moderna nicht hinauszögern? Zweitens: Kann man den Astrazeneca-Impfstoff nicht doch Über-55-Jährigen verabreichen? Und drittens: Sollte man bei den Impfstoffen von Astrazeneca und Johnson&Johnson nicht erstmal ganz auf die zweite Dosis verzichten und die erst nach dem Sommer verabreichen?
"Auf der Grundlage der Antworten der Experten werden wir dann eine tiefgründige Debatte führen müssen", sagte Vandenbroucke in der RTBF. Das sollte in seinen Augen zu einem veritablen Reset der Impfkampagne führen, einem Neuanfang unter neuen Prämissen. Die Debatte zwischen den Gesundheitsministern des Landes soll am Mittwoch stattfinden.
Britische Studien
Eine oder sogar zwei der Fragen von Vandenbroucke scheinen inzwischen aber schon beantwortet zu sein. Über den Impfstoff von Astrazeneca gibt es nämlich neue Erkenntnisse. In Großbritannien ist das Präparat inzwischen hunderttausendfach verabreicht worden. Die britischen Gesundheitsbehörden haben die darauffolgenden Entwicklungen akribisch beobachtet.
Aus den Erhebungen geht hervor, dass der Astrazeneca-Impfstoff nicht nur zum Teil eine bessere Wirksamkeit aufweist als das Präparat von Pfizer, das gilt zudem insbesondere bei älteren Menschen. Konkret: Vier Wochen nach Verabreichung der ersten Astrazeneca-Dosis sei die Zahl der Covid-Erkrankungen bei Über-70-Jährigen auffallend niedrig. Schon nach einer Impfung sinke das Risiko einer stationären Behandlung um 80 Prozent, und das bei Über-80-Jährigen.
Zusammengefasst: Der Astrazeneca-Impfstoff wirkt offensichtlich bei Über-55-Jährigen. Und eine Dosis kann reichen, um das Risiko einer schweren Erkrankung deutlich zu senken. Diese Erkenntnisse scheinen jedenfalls die Löcher zu stopfen, die die Experten in den klinischen Studien von Astrazeneca beklagt hatten. Das Problem war ja, dass das Präparat so gut wie nicht an Probanden über 55 getestet worden war, was unter anderem die belgischen Behörden ja erst dazu gebracht hatte, den Impfstoff erstmal nicht älteren Menschen zu verabreichen.
Es ist also durchaus denkbar, dass diese neuen Erkenntnisse dazu führen können, den Astrazeneca-Impfstoff breiter einzusetzen und es vielleicht zunächst bei einer Dosis zu belassen. Man könnte dann also einen Gang höher schalten.
Auswahl der Risikogruppen
Doch liegt hier wirklich das einzige Problem? Wohl nicht. Denn die leeren Impfzentren waren erwiesenermaßen nicht nur auf mangelnden Impfstoff zurückzuführen. Die Kinderkrankheiten seien aber so weit behoben, versicherte in der RTBF Sabine Stordeur, die Nummer zwei der Impf-Taskforce. So sei es z.B. so, dass die Auswahl der Risikogruppen schon jetzt quasi abgeschlossen sei.
Man habe zwei Quellen quasi übereinandergelegt: Die Datenbanken der Krankenkassen und die Krankenakten der Hausärzte. Das habe es ermöglicht, die meisten Menschen zu identifizieren, die der Risikogruppe der Menschen mit Begleiterkrankungen zugeordnet werden.
Hausärzte wollen aktiv werden
"Warum in Gottes Namen greift ihr nicht gleich auf die Hausärzte zurück?", ärgerte sich aber Thomas Orban, der Vorsitzende des frankophonen Hausärzteverbandes SSMG, in der RTBF. "Die Menschen zu impfen, das ist unser Beruf", sagte Orban. "Die Menschen vertrauen ihrem Hausarzt."
Sabine Stordeur erteilt solchen Überlegungen aber eine Absage, das sei logistisch nicht machbar. Erstmal sei es so: "Im Moment muss man rund 150 Impfzentren mit großen Mengen beliefern. Greift man auf die Hausärzte zurück, dann wären das 10.000 kleine Lieferungen". Hinzu komme: Die Fläschchen enthielten zehn Chargen, die innerhalb von sechs Stunden verimpft werden müssten.
"Unsinn!", erwidert Thomas Orban. "Erstens: Jeden Tag werden die Hausärzte und auch zehntausende Apotheken mit Medikamenten beliefert. Und zweitens: Zehn Patienten zu finden, um den Impfstoff zu verabreichen, das ist nicht schwer." Außerdem, fügt Orban sarkastisch hinzu: "In meiner Praxis sind mehr Menschen als aktuell in den Impfzentren."
Jede Woche 70.000 Pfizer-Biontech-Impfdosen
In diesem Monat können jede Woche rund 70.000 Impfdosen von Pfizer-Biontech verabreicht werden. Gleichzeitig kann die zweite Dosis drei Wochen später garantiert werden. Das hat die Impf-Taskforce am Dienstag in Brüssel bekanntgegeben. Voraussetzung ist, dass die Lieferungen wie geplant eintreffen.
Beim Moderna-Präparat liegt die wöchentliche Impfstoffmenge bei knapp 16.000 Impfdosen. Zum Impfstoff von Astrazeneca wurden keine Zahlen mitgeteilt. (belga/est)
Roger Pint