Es ist nicht das erste Mal, dass die politisch Verantwortlichen unter dem Druck der öffentlichen Meinung während der Corona-Krise einen Kurswechsel vollziehen. Mal in kleineren, mal in größeren Dingen. Die Beschleunigung der Impfkampagne gehört definitiv zu letzteren.
Eine wohl beträchtliche Rolle dürfte das medizinische Personal gespielt haben. Das forderte, zuerst bei den Impfungen an die Reihe zu kommen, mit durchaus nachvollziehbaren und offensichtlichen Argumenten. Schließlich sind es die Menschen im Gesundheitssektor, die tagtäglich einer besonders hohen Ansteckungsgefahr ausgesetzt sind.
Falls es tatsächlich, wie von vielen Experten befürchtet, zu einer dritten Corona-Welle kommen sollte, sind es natürlich auch diese Menschen, die einmal mehr die Front halten müssen. Nach dem Plan der Regierung sollten die ersten Impfstoffdosen aber exklusiv für Bewohner und Pflegepersonal in den Wohn- und Pflegezentren reserviert sein.
Es sei nach dem notwendigerweise vorsichtigen Start und den erforderlichen Testläufen jetzt wichtig, dass die Impfkampagne möglichst schnell zur Höchstgeschwindigkeit auflaufe, erklärte Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke daraufhin am Dienstag. Deswegen habe man die zuständige Taskforce aufgefordert, die Impfstrategie komplett zu überarbeiten. Mit dem Ziel, die Impfungen möglichst schnell durchzuführen.
Konkret bedeutet das, dass die zweiten Dosen des Pfizer-Biontech-Impfstoffes, die für die Alten- und Pflegeheime reserviert waren, jetzt freigegeben sind für Impfungen des gesamten Gesundheitspersonals. Das bedeutet auch, dass zumindest in den flämischen Wohn- und Pflegezentren nicht nur das pflegende Personal, sondern alle Menschen, die dort arbeiten, bis Ende des Monats geimpft werden sollen, also beispielsweise auch Reinigungskräfte und Küchenpersonal.
Die jetzt ausgegebene Losung ist also: Es dürfen keine Impfstoffdosen ungenutzt in den Gefrierschränken liegenbleiben. Alles, was Pfizer-Biontech liefern kann, soll auch umgehend und ohne Rückhaltung der ursprünglich geplanten Reserven eingesetzt werden.
Fristgerechte Lieferung "erneut" bestätigt
Als Begründung für den Richtungswechsel führen die politisch Verantwortlichen unter anderem an, dass sie nicht sicher waren, dass Pfizer die versprochenen Impfstoffdosen auch liefern konnte. Der flämische Gesundheitsminister Wouter Beke (CD&V) etwa schrieb auf Twitter, dass der Pharmabetrieb jetzt die Lieferungen für die kommenden Wochen bestätigt habe. Und dass es deswegen nicht notwendig sei, weiter Reserven der bereits erhaltenen Dosen zurückzuhalten. In einer Reaktion ließ Pfizer daraufhin verlauten, dass man die fristgerechte Lieferung und den vorgesehenen Umfang des Impfstoffs "erneut" bestätige.
Dieser ganze Vorgang überraschte auch Marc Noppen, Chef des Universitätskrankenhauses in Brüssel. Er sei davon ausgegangen, dass natürlich alles wie vereinbart geliefert würde. Dass das erst erneut bestätigt werden musste, sei für ihn neu, so Noppen in "De afspraak". Und er kritisiert auch die Aussagen über in Gefrierschränken liegende Dosen. Er wisse nicht, wo das der Fall sein solle. Sein Krankenhaus habe den Impfstoff gerade erst bekommen. Und er verstehe auch wirklich nicht, worauf eigentlich noch gewartet werde.
Noppen findet es auch ein wenig sonderbar, dass alles so langsam und träge gehe. Damit meint er die übertriebene Vorsicht und die Begründung der politisch Verantwortlichen, dass die Verzögerungen durch die notwendigen Testläufe mitbedingt gewesen seien. Was die Kühlketten, Bewachung und sonstige Logistik in den Krankenhäusern beträfe, sei das doch wahrlich kein Hexenwerk.
Das Personal in den Wohn- und Pflegezentren habe schon von anderen Impfungen Erfahrung in diesen Dingen. Hier werde doch Zeit verloren. Jeden Tag würden weiterhin zwischen 60 und 80 Menschen an Covid sterben, das sei soviel wie täglich ein kleiner Flugzeugabsturz, erinnerte Noppen.
Boris Schmidt