Der 26. Mai 2019. Wie wird die Geschichte am Ende über diesen Wahlsonntag urteilen? Fakt ist: Abgesehen davon, dass die Extreme deutlich gestärkt wurden, hat der Wähler die Karten sehr kompliziert gelegt. Keine Option zwingt sich wirklich auf. Die beiden größten Parteien im Norden und im Süden des Landes, N-VA und PS, hatten sich schon vor der Wahl gegenseitig ausgeschlossen. Zugleich ist jede von ihnen in ihrer jeweiligen Sprachgruppe unumgänglich.
Schon am Wahlabend ahnte man, dass hier ein Patt drohte. Und das hat sich bewahrheitet. So ziemlich alle haben sich in ihren Positionen eingegraben. Und die Informatoren, Vorregierungsbildner, königlichen Beauftragten, sie kamen und gingen.
Und dann kam Corona. Am Ende eines chaotischen Wochenendes wird Mitte März dann aber doch keine neue Notregierung auf die Beine gestellt, sondern bleibt die Minderheitsregierung im Amt - mit Sophie Wilmès an der Spitze, die den Posten des Premierministers wenige Wochen zuvor erst übernommen hatte. Eine Mehrheit im Parlament spricht der Equipe aber das Vertrauen aus und zehn Parteien statten sie mit Sondervollmachten aus.
Doch ist all das befristet. Die Sondervollmachten laufen bereits nach drei Monaten aus, sprich, in gut einem Monat. Eine Verlängerung ist möglich, gilt aber als unwahrscheinlich. Doch richten sich alle Blicke schon auf den September. Denn: Nach sechs Monaten wird die Regierung wieder die Vertrauensfrage stellen. Dazu hat Sophie Wilmès sich auch noch einmal ausdrücklich verpflichtet. Ende September schlägt diese Stunde.
Heißt also: Dann wäre die "Corona-Klammer" beendet. Nur: Eine Rückkehr zu einer geschäftsführenden Regierung ist dann keine Option mehr. Um das Land und seine Wirtschaft nach dem Corona-Schock wieder aufzurichten, dafür ist eine handlungsfähige Regierung nötig. Also: eine "richtige" Koalition mit einer "richtigen" Mehrheit.
Bis dahin sind sich auch alle einig. Nur: Eben eine solche Koalition mit einer Mehrheit im Parlament, die hatte man ja bis März einfach nicht hinbekommen. Die beiden sozialistischen Parteien PS und SP.A haben jetzt jedenfalls - als stärkste politische Familie des Landes - die Initiative ergriffen und informelle Gespräche angestoßen.
Und vielleicht, so hörte man immer wieder, vielleicht hat ja Corona alles verändert. "Hat es!", sind sich N-VA und PS tatsächlich auch mal einig. Die Krise hat inhaltlich eine neue Realität geschaffen, sagten in den vergangenen Tagen fast gleichlautend der N-VA-Vorsitzende Bart De Wever und der PS-Chef Paul Magnette.
Und es ist tatsächlich Bewegung in den Politik-Betrieb gekommen. Zumindest bei manchen Parteien. Die CD&V etwa scheint nicht mehr auf Gedeih und Verderb zu fordern, dass die N-VA zwingend dabei sein muss. "Jetzt geht es nur noch um das Projekt", sagte in der VRT CD&V-Chef Joachim Coens. Jetzt geht es um die Zukunft unserer Gesellschaft. Und da macht mit, wer mitmachen will. Wichtig ist nur, dass es voran geht.
Der neue OpenVLD-Chef Egbert Lachaert will sich auch nicht in ein Korsett stecken. Es wäre bestimmt gut, wenn sich die beiden stärksten Parteien zusammenraufen würden. Für ihn sei der Inhalt aber wichtiger als das Casting.
Das muss die N-VA doch "etwas" nervös gemacht haben. "Eine Regierung ohne eine Mehrheit also ohne Legitimation in Flandern, und das in diesen Zeiten: undenkbar. Das sollte doch bitte jedem flämischen Parteipräsidenten klar sein. Und De Wever plädierte auch gleich wieder für eine Staatsreform.
Für den PS-Vorsitzenden Paul Magnette müssen die Signale von CD&V und OpenVLD dagegen fast schon wie Musik in den Ohren gewesen sein. Die ominöse Vivaldi-Koalition scheint plötzlich wieder denkbar zu sein. Magnette selbst hat aber noch andere, "neue" Entwicklungen ausgemacht: Einige flämische Parteien denken laut darüber nach, Zuständigkeiten wieder an den Föderalstaat zurück zu übertragen.
Magnette denkt da vor allem an die Gesundheitspolitik. Im Moment ist Belgien ja das Land der neun Gesundheitsminister. Aber, wenn man genau hinschaut: Diese Einsicht bei einigen flämischen Parteien ist nicht wirklich neu. Indem Magnette das so hervorhebt, wollte er wohl eher eine Botschaft an die N-VA schicken, nach dem Motto: Wenn es eine Staatsreform geben soll, dann nicht unbedingt in die Richtung, die den Nationalisten vorschwebt. So treibt man wohl den Preis hoch. Zumal De Wever eine Rückübertragung von Zuständigkeiten an den Föderalstaat im Vorfeld schon kategorisch ausgeschlossen hatte.
Allein diese Episode wirkt dann doch wieder wie ein Déjà-Vu. N-VA und PS beharken sich wieder. Immerhin noch weitgehend ohne den jeweils anderen ausdrücklich zu nennen.
In jedem Fall sollte irgendwann Ende September eine Deadline sein. Wenn bis dahin keine handlungsfähige Regierung in Sicht ist, dann bleiben eigentlich nur noch Neuwahlen...
Roger Pint