In Krisenzeiten ist anscheinend alles möglich. Noch vor kurzem hätte wohl kaum jemand geglaubt, dass bald in halb Europa das öffentliche Leben wegen einer Pandemie quasi stillstehen würde. Genauso wenig hätten selbst die größten Optimisten es für möglich gehalten, dass Belgien innerhalb kürzester Zeit eine handlungsfähige Föderalregierung bekommen würde. Beides ist mittlerweile Realität.
MR-Chef Georges-Louis Bouchez bestätigt die Regierungsbildung: "Ja, tatsächlich, wir haben eine 'echte' Regierung, weil es eine Vertrauensfrage geben wird und dann wird es keine geschäftsführende Regierung mehr sein, sondern eine voll handlungsfähige." Eine Minderheitsregierung, um genau zu sein. Denn personell wird sich nichts ändern. Wilmès bleibt Regierungschefin, ihre MR sowie Open-VLD und CD&V stellen die Minister. Und diese drei Parteien verfügen über nur 52 der 150 Sitze im Parlament.
Sieben weitere Parteien - und damit alle im Parlament vertretenen bis auf den Vlaams Belang und die PTB - unterstützen nun jedoch diese Minderheitsregierung. Darauf einigten sich die Fraktionsvorsitzenden am Sonntag angesichts der Krise.
Und das ist nicht alles. Wilmès und ihr Kabinett sollen besondere Befugnisse erhalten, sogenannte Sondervollmachten. Die Regierung kann dann mit sogenannten königlichen Erlässen direkt und ohne Debatte im Parlament Dekrete und Gesetzesänderungen erlassen. Warum das nötig ist, erklärt SP.A-Chef Conner Rousseau: "Ich hoffe natürlich nicht - aber es kann passieren, dass das Parlament an einem bestimmten Punkt physisch nicht mehr zusammenkommen kann. Dann muss die Regierung trotzdem alles tun können, um die Menschen zu versorgen und das medizinische Personal zu unterstützen."
In diesem Sinne soll die Regierung zwar formal voll handlungsfähig sein, ihr Mandat sich aber nahezu ausschließlich auf den Kampf gegen das Coronavirus beziehen. MR-Chef Bouchez sagt dazu: "Es ist ausgeschlossen, dass jetzt zum Beispiel an einer neuen Rentenreform gearbeitet wird. Das Vertrauen, das die zehn Parteien der Regierung entgegenbringen, ist ein Vertrauen darauf, dass die aktuelle Krise angegangen wird."
Formell gehört auch die N-VA zu diesen zehn Parteien. Parteichef Bart De Wever hielt sich am Montag trotzdem nicht mit seinem Unmut zurück. "In jedem normalen Land mit einer nationalen Krise, die vergleichbar ist mit einem Krieg, wird auch eine Kriegsregierung gebildet. Und dann werden Meinungsverschiedenheiten beiseite gelegt und die größten Parteien nehmen das Heft in die Hand. Welches Land bildet denn eine Minderheitsregierung in Kriegszeiten? Das tut doch niemand."
Laut De Wever hatte am Donnerstagabend eine entsprechende Einigung mit der PS auf dem Tisch gelegen. Aber daraus sei dann nichts geworden, einige Parteien hätten die N-VA nicht in der Regierung haben wollen. Verfechter der gefundenen Lösung verweisen besonders auf den Zeitdruck: Eine Regierungsumbildung sei angesichts der Krise Zeitverschwendung gewesen. Deshalb soll die Regierung Wilmès weitermachen.
Glücklich ist der N-VA-Chef damit offensichtlich nicht. Und doch haben seine Parteikollegen die Einigung am Sonntag unterstützt. Was die Zustimmung zu den Sondervollmachten angeht, säte De Wever dann aber doch Zweifel: "Also ich hab konkret noch keinen Vorschlag für diese Vollmachten gesehen und ich kann ja nichts beurteilen, was ich noch nicht gesehen habe. Ich nehme an, es wird dann um eine bestimmte Zahl an Monaten gehen und dass da auch präzise steht, was geplant ist. Und das schauen wir uns dann an."
Coronakrise: Geschäftsführende Regierung soll umfassende Vollmachten bekommen
Peter Eßer