Es ist wohl ein neues Kapitel, das am Mittwoch in Syrien aufgeschlagen wurde. Nachdem die türkische Armee monatelang mit den Hufen gescharrt hatte, hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan jetzt den Befehl gegeben, loszuschlagen. Im Fadenkreuz sind die Kurdenmilizen, allen voran die YPG. Nach Darstellung von Ankara stehen viele dieser Gruppierungen der in der Türkei verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK nahe. Und die Aussicht, dass im Norden Syriens ein dauerhafter Kurdenstaat entsteht - de facto gab es dort ja schon so etwas Ähnliches - war der Türkei schon längst ein Dorn im Auge. Der Plan ist jetzt eine Art Pufferzone zu schaffen, zwischen der Türkei und dem Norden Syriens.
Die Offensive sorgte für einen Sturm der Entrüstung. Vor allem in der westlichen Welt. Er rufe die Türkei zur Besonnenheit auf, sagte etwa EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mit scharfen Worten. Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg appellierte an die Regierung in Ankara, zurückhaltend und verhältnismäßig vorzugehen. Zwar ist die Türkei bekanntlich Teil der Nato. Im Moment sieht es aber nicht so aus, als würden diese Appelle in Ankara gehört.
Das Ganze hat insbesondere die Europäer kalt erwischt. Die Offensive konnte nur stattfinden, nachdem US-Präsident Donald Trump ziemlich abrupt und kurzfristig de facto Grünes Licht gegeben hatte. "Ich hab' das nicht kommen sehen", sagte auch der amtierende Innenminister Pieter De Crem. In jedem Fall sorge das Ganze dafür, dass die Lage in der Region nur noch komplizierter und unübersichtlicher werde.
Das kann man wohl sagen. Die Kurden sind hier buchstäblich zwischen die Fronten geraten. Eigentlich bekämpften sie die Terrororganisation IS. Die ist nämlich - entgegen der Meinung der Amerikaner - noch längst nicht am Ende. Und jetzt fällt ihnen die Türkei in den Rücken. In doppeltem Sinne, denn für die Kurden fühlt sich das wie ein Verrat an. Sie waren im Grunde die Bodentruppen des Westens im Kampf gegen den IS.
Gefahr ist für Europa und Belgien
Und es waren auch die Kurden, die bislang die Flüchtlings- beziehungsweise Gefangenenlager in Nordsyrien bewacht haben. Wenn man sich in deren Lage versetzt, dann kann man sich an den fünf Fingern abzählen, dass sie nicht mehr so furchtbar viel Energie investieren können und wollen, um weiter diese Lager zu bewachen. Auch Innenminister De Crem sieht diese Gefahr. Diese Gefahr ist für Europa und insbesondere für Belgien in dem Sinne noch akuter, als unter den internierten IS-Kämpfern viele Staatsbürger von EU-Staaten sind. Allein 20 ehemalige Kämpfer sollen es sein, die einen belgischen Pass haben. Hinzu kommen 35 Frauen und anscheinend mehrere Dutzend Kinder.
Nun muss man sagen, dass die Problematik an sich nicht vom Himmel fällt. Schon vor einem Jahr hatte US-Präsident Donald Trump damit gedroht, die europäischen IS-Kämpfer notfalls laufen zu lassen, falls sich die Europäer nicht darum kümmern wollen.
Gerade erst hat der Chef des Antiterror-Stabs OCAM, Paul Van Tigchelt, in der VRT noch einmal dafür plädiert, alle Belgier aus den Lagern heimzuholen: "Wir können nur sicher sein, dass diese Leute nicht doch wieder verschwinden, wenn wir sie nach Belgien ausliefern und hier aburteilen."
Pampige Reaktion von Innenminister De Crem: "Der Herr Van Tigchelt sollte Politik Politikern überlassen". Belgien arbeite zusammen mit sechs anderen Staaten an einer "Vor-Ort-Lösung". Konkret: Sie sollen in der Region vor Gericht gestellt werden. Man will ein Sondertribunal aufbauen; am ehesten würde das im Nordirak angesiedelt. Die entsprechenden Pläne sind offensichtlich schon weiter fortgeschritten. Und wie sorgt man dafür, dass die potentiellen Angeklagten nicht in der Zwischenzeit aus den Lagern fliehen? "Vor Ort sind noch französische und britische Truppen. Die werden die Lager jetzt im Auge behalten", sagt De Crem.
Roger Pint