Die Kammersitzung am Donnerstag begann mit einer Schweigeminute. Ausnahmslos alle Fraktionen sprachen den Angehörigen der Opfer zunächst ihr Mitgefühl aus, den Familien der beiden toten Polizistinnen Soraya Belkacemi und Lucile Garcia und den Angehörigen von Cyril Vangrieken, der zur falschen Zeit am falschen Ort war. Zugleich bekundeten alle ihre Unterstützung für die vier verletzten Polizisten. Nicht zu vergessen: Allgemeine Anerkennung für die Reinigungskraft, die durch ihre Kaltblütigkeit im Angesicht des Killers wohl Schlimmeres verhindert hat.
Dann hagelte es aber Fragen. Aus allen Fraktionen. Auch aus der Mehrheit. Die wichtigste und zugleich unerträglichste immer und immer wieder: "Wie kann es sein, dass ein Mensch wie dieser Benjamin Herman überhaupt die Erlaubnis bekam, das Gefängnis zu verlassen?". Konkreter: Wer wusste wann was? Wusste die Gefängnisverwaltung in Marche-en-Famenne nichts von der Radikalisierung des Attentäters? Wie kann das sein? Einige gaben sich besonders verbittert, nach dem Motto: Jetzt stehen wir also schon wieder hier und müssen Schweigeminuten abhalten für unschuldige Opfer einer Bluttat, die vielleicht hätte verhindert werden können.
Betretene Mienen auch auf der Regierungsbank. Jeder ist sich offensichtlich dessen bewusst, dass Elemente auf dem Tisch liegen, die nur schwer zu rechtfertigen sind. Erst ging Premierminister Charles Michel ans Rednerpult. Auch er sprach erstmal allen Betroffenen sein Mitgefühl beziehungsweise seine Unterstützung aus. Er versprach vor allem eins: Klarheit, Aufklärung. Alle Dienste täten ihr Bestes. Aber: Irren ist menschlich. Man werde alles tun, um zu analysieren, was wo schiefgelaufen ist. "Das sind wir den Opfern und Angehörigen schuldig."
Zugleich richtete Michel einen Appell an das ganze Parlament: Bei allen politischen und ideologischen Unterschieden müsse man jetzt zusammenstehen, um die Demokratie, den Rechtsstaat und unsere Freiheiten zu stärken.
Im Grunde war Michel aber nur so eine Art Vorredner. Innenminister Jan Jambon ergriff kurz das Wort, war aber im Grunde nicht der, in dessen Zuständigkeit die wichtigsten Fragen fielen. Alle Blicke richteten sich da längst auf den Justizminister Koen Geens. Er saß buchstäblich auf dem heißen Stuhl. Koen Geens hatte aber offensichtlich nicht vor, kampflos die Waffen zu strecken. Es folgte ein langes Plädoyer.
Und dabei nahm er erstmal seine Dienste in Schutz. "Was glauben sie denn?", fragte Geens rhetorisch in das Halbrund. "Glauben Sie nicht, dass viele Mitarbeiter der zuständigen Behörden seit vorgestern schlaflose Nächte hatten, weil sie sich fragen, ob sie nicht falsch entschieden haben. Auch diese Leute verdienen unseren Respekt."
Entweder-Oder-Entscheidungen
Denn eins ist sicher: im Nachhinein ist man immer schlauer. Täglich müssen Entweder-Oder-Entscheidungen getroffen werden. Gehört er auf die Liste der radikalierteren Personen oder nicht? Bekommt er Hafturlaub, oder nicht? Diese Entscheidungen werden in den meisten Fällen im Zusammenspiel zwischen mehreren Diensten getroffen. "Und wissen Sie was?", sagte Geens: Jeder mache hier Fehleinschätzungen. Die Amerikaner im Fall des New York-Attentäters, die Deutschen im Fall Anis Amri: Auch sie kannten den Täter, hatten ihn aber nicht als potentiellen Gefährder auf dem Schirm. Man könne hier also nicht von einem typisch belgischen Versagen sprechen.
Dann ging es in die Einzelheiten. Benjamin Herman wurde tatsächlich nur in einer Nebenrolle in einer Akte des Staatsschutzes geführt, als "Bekannter eines Radikalisierten". Der Anti-Terror-Stab Ocam hat ihn jedenfalls nicht als Gefährder eingestuft. Zweitens: Es stimme, dass Herman bei früheren Freigängen wieder straffällig geworden ist. Dafür sei er danach aber auch 18 Monate nicht in den Genuss irgendeines Hafturlaubs gekommen. Der Freigang, bei dem es zu der Tragödie kam, war nach reiflicher Überlegung genehmigt worden. Und, wer den Mangel an personellen und materiellen Mitteln anprangere, der verkenne, was sich in den letzten Monaten getan habe, etwa die Einrichtung von Anti-Radikalisierungs-Trakten in zwei Gefängnissen.
Und dann, nach über 20 Minuten, das inzwischen erwartete Fazit: "Ich habe nach reiflicher Überlegung beschlossen, nicht zurückzutreten", sagt Geens. Er sei nicht der Typ, der in der Krise aufgibt. Er wolle alles tun, um noch bessere Arbeit abzuliefern.
Die meisten Fraktionen zeigten sich derweil enttäuscht. Den Rücktritt hatte zwar mit einer Ausnahme niemand gefordert. Viele Parlamentarier beklagten aber die technische und wenig empathische Antwort des Ministers. Nun gut, so der allgemeine Tenor: "Seien Sie gewiss, dass wir Ihre Arbeit mehr denn je im Auge behalten werden."
Roger Pint